Auf dieser Seite "Erinnerungen" berichten Reinswalder und Reinswalde nahestehende Personen über ihre Erlebnisse.

Mit interessanten Berichten informiert Sie auch das „Sorauer Heimatblatt“ (s. Hinweis unter "Verschiedenes")

 

 

Inhaltsverzeichnis für diese Seite:

1.   Eine Hochzeit in Reinswalde

2.   Osterzeit und Ostern in Reinswalde

3.   Brief an eine Heimatfreundin

4.   Die Flucht 1945 – 1946 von Martha Leitloff und Dieter Schmidt

5.   Dorothee Schöne – Kind und Lehrerin in Reinswalde

6.   Erinnerungen 1900 - 1945

7.   Gedenkstätte Friedhof

 

 

 

Eine Hochzeit in Reinswalde

Erinnerungen von Erwin Steinke - in einem Gespräch notiert am 9. Juli 1997 von Sohn Reinhard

An meine Hochzeit mit Deiner Mutti erinnere ich mich noch sehr gerne. Das war wirklich ein schönes Fest. Kennengelernt hatte ich "Schmidts Liesel" während meiner Dienstzeit bei der Wehrmacht in Sorau, doch das ist eine andere Geschichte. Getraut wurden wir am 28. Oktober 1939 von Herrn Blobel, dem Standesbeamten von Reinswalde. Die kirchliche Trauung vollzog Herr Pastor Johannes Hofmann von der alt-lutherischen Kirche. Ihn und seine Frau Lieselotte kennst Du ja durch Überlieferungen, er hat Dich übrigens getauft. Er stammte von einem Bauernhof in Balhorn und sie war eine Tochter von dem dortigen Pastor Siebert an der alt-luth. Kirche.
(Anm.: Es handelt sich hier um die ev. renit. Kirche in Hessen, die sich mit anderen Kirchen heute zur "SELK" zusammengeschlossen haben.)

Mit einer Kutsche sind wir zur Kirche gefahren. Diese gehörte Deinem Onkel Paul, dem Mann von Tante Frieda, eine Schwester von Deiner Mutti. Nach der kirchlichen Trauung sind wir mit unserer Hochzeitskutsche durchs Dorf zurück zum Haus Deiner Oma "Martha Schmidt" in der Wellersdorfer Straße gefahren. Unterwegs standen die Bewohner Spalier und alle waren sie festlich gekleidet. Denn so eine Hochzeit auf dem Dorf war schon ein besonderes Ereignis für die Menschen. Erinnern kann ich mich an einen Ausruf von meiner frisch angetrauten Frau, die plötzlich meinte: "Ach, da ist ja auch die 'Mielischen'." Sie muß damals etwa 75 - 80 Jahre alt gewesen sein und sicherlich nicht gut zu Fuß, denn sonst hätte Liesel diese Frau bestimmt nicht besonders erwähnt. Ob sie von kleiner Statur war, das vermag ich heute nicht mehr zu sagen.
(Anm.: An diese "Mielischen" erinnerte sich mein Vater während des Lesens der Lebenserinnerungen von Dorothee Schöne, die im Sorauer Heimatblatt ab August 1997 ff. abgedruckt wurden. Nach seiner Meinung kann es sich nur um die dort beschriebene Tochter Mariechen handeln. Wenn wir das obige Alter und die Beschreibung von Dorothee Schöne zu Grunde legen, war Mariechen um 1890 etwa 30 und ihre Mutter etwa 60 Jahre alt. Im Text heißt es: "Gern besuchten wir im Dorf die kleine Mutter Mielisch mit ihrer noch kleineren und buckligen Tochter Mariechen, die sich durch Nähen unterhielten.")

Während unserer Rückfahrt verteilten wir kleine Geldgeschenke, die wir aus unserer Kutsche in die spalierstehenden Leute warfen, hier mal einen Groschen, dort mal 20 Pfennig, ab und zu auch einen "Fuffziger". Ach, es war schon schön, und wie lange ist das nun schon her, .....
(Anm.: Das andere verschluckte er, aber ich hatte ihn schon verstanden, daß er zum Schluß eigentlich sagen wollte: "und Mutti ist nun auch schon 15 ½ Jahre tot".)

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Brief an eine Heimatfreundin
Erinnerungen an eine nicht geplante Reise – Vorwort von Reinhard Steinke, Jever

Vor drei Jahren (im Herbst 1997) bekam ich beim jährlichen Treffen der Reinswalder in Balhorn von Gertrud Gummert, geb. Rehnisch die Kopie eines Briefes, den meine Mutter Elisabeth, geb. Schmidt (Schmidts Liesel), vor nunmehr über 54 Jahren an ihre Freundin schrieb. Soweit mir bekannt, ist es eines der wenigen Dokumente aus dieser Zeit, die der Familie in schriftlicher Form erhalten geblieben sind. Ich danke "Tante Trudl", die mir die Erlaubnis zur Veröffentlichung gab. Beim Treffen in Balhorn am 16./17. Sept. 2000 übergab sie mir das Original mit dem dazugehörenden Briefumschlag und den amerikanischen Besatzungsbriefmarken; dieser Verzicht auf eine persönliche über ein halbes Jahrhundert aufbewahrte Erinnerung ist nicht selbstverständlich und verdient großen Respekt. Der nachstehende Text wird ohne weiteren Kommentar wiedergegeben – er steht für sich!

Minden, 4.4.46 - Liebe Trudl!
Deine Karte habe ich heut mit bestem Dank erhalten, man freut sich ja immer, wenn sich wieder jemand von der lieben Heimat meldet. Ja, ich bin nun hier in Minden gelandet, auch auf eine ganz komische Art u. Weise. Damals war ich doch mit Mutter zusammen, wir wurden von Bautzen aus nach der Tschechei evakuiert, als der Krieg zuende ging, wollten wir natürlich dort nicht bleiben und sind mit unsern Soldaten zurück nach der Heimat gefahren. Annemarie, Reinhard und ich waren in einem Auto, Mutter u. alle andern auf einem andern und da hab ich die andern alle verloren, es ging ja alles durcheinander.
Ich hatte gar nichts bei mir, nur was ich anhatte. Da bin ich dann mit ins Gefangenenlager gekommen, erst in Amerik. Und zuletzt in Russisches, wo es nicht schön war. Reinhard wurde mir dort krank. Noch in der Tschechei, dort wurden wir dann auch wieder davongejagt. Ich hab aber immer eine schützende Hand über mir und den Kindern gehabt. Mit dem einzigen Auto, was dort noch war, die andern hatte der R. alle weggenommen, bin ich aus dieser Hölle dann wieder weggekommen. Und sind dann glücklich nach Österreich gekommen. Bald bis Wien. Horn. Dort war ich am 22.5.45. Dann hab ich mich selbständig gemacht und bin mit der Bahn immer stückweise zurück ins Reich.
Es war ja sehr schwierig, denn Reinhard wurde immer schlechter. Ja, nun wohin. Da bin ich bis nach Witten an/d Ruhr gefahren, da war ich so am 1.6., da hatte ich Bekannte. Dort ist es aber sehr schlecht mit der Esserei, hatten keine Kartoffeln. So war ich gezwungen weiter zu fahren. Nun wieder: wohin? Nach Berlin. Reinhard  immer noch sehr krank, hatte Ruhr oder Typhus. Man dachte manchmal, es wäre etwas besser. Aber die Kräfte nahmen immer mehr ab. Da bin ich am 9.6. dort wieder weggefahren, zuerst mit einem Auto bis Minden und von hier wollte ich mit der Bahn weiter nach Berlin. Wäre auch hingekommen, wenn Reinhard nicht so krank gewesen wäre.
Als ich mit dem Auto fuhr, wurde Reinhard immer weniger, man sah es direkt. Er konnte den Kopf nicht mehr halten, nicht mehr stehen und auch gar nichts mehr. Hier in Minden bin ich gleich erst zum Arzt gegangen und die Wohlfahrt hat mir eine Unterkunft gegeben im Altersheim. Dort hatten wir es sehr gut, hab Reinhard gehegt und gepflegt und hab ihn auch wieder gesund bekommen. Im Juli fing er wieder an zu laufen, und heut ist er wieder ein großer, strammer Junge. Hat schon viel gelernt, er geht nämlich in den Kindergarten, wo es sehr schön ist.
Mein Mann ist seit 9.12.45 auch bei uns. Ist am 10.6.entlassen worden und war solange in Bayern b. Bauer. Durch die Eltern in Berlin haben wir uns wieder gefunden. Unsre Mutter war nun noch in der Tschechei und sind im Januar jetzt von dort weggegangen nach Balhorn, durch Frau Pastor hab ich dann auch wieder unsre Mutter gefunden. Auch ist Frieda am 18.1. bei mir angekommen.
Wir haben nun eine möblierte Wohnung bei einer alleinstehenden 80jährigen Frau. Erwin arbeitet als Schlosser und ich arbeite beim Engländer. Hab ja sehr gut und auch viel Zeit für mich. Frieda ist nun am 18.3. auch nach Balhorn gefahren mit Annemarie, Erwin u. Reinhard auch. Ich wollte ja gerne fahren, aber konnte wegen der Arbeit nicht gut. Erwin ist noch nicht zurück, warte alle Tage. Otto hat sich auch gemeldet aus engl. Gefangenschaft in Deutschland. Heut hat unsre Oma Geburtstag, ja wie schön war es immer zu Hause. Wie gut, daß ich immer oft bin zu unsrer Mutter gegangen. Heut ist alles anders. Ob wir noch mal nach Hause kommen?
Nun werde ich mal aufhören und schlafen gehen. Hoffe, von Dir ja auch bald wieder etwas zu hören. Grüße bitte alle lieben Bekannten von mir.
Nun sei Du recht herzlich gegrüßt von Deiner              Liesel Steinke

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Osterzeit und Ostern in Reinswalde

Erinnerungen aus der Zeit des ev.-altluth. Pastor Burgdorf (1919 - 1931), von Martha Lehmann, geb. Grätz, der Mutter von Ella Friebe, geb. Lehmann (aufbereitet von Reinhard Steinke, Jever)

In der Epiphaniaszeit wurde der Mission gedacht. Dann begann die Passionszeit.

In dieser Zeit begleiteten wir unsern Heiland auf seinem Leidenswege bis zum Kreuz am Karfreitag. Jeden Mittwoch war Passionsgottesdienst. Der Karfreitag war der stille und heiligste Feiertag des ganzen Jahres. Am Sonnabend wurde noch alles vorbereitet auf Ostern, aber sonst war es stille. Aber am Ostermorgen früh um drei Uhr ertönten und jubelten alle Glocken und verkündigten die Auferstehung des Herrn. Welch feierliche Stille des Ostermorgens. Je nach der Jahreszeit zeigten sich hie und da die ersten Frühlingsblumen, frisches Grün überzog Wiesen und Felder und zeugte davon, daß auch die Natur zu neuem Leben erwache. Auch ließen die Vögelchen ihre Stimmen erklingen und verkündigten den heranbrechenden Morgen. Während des Läutens gingen viele nach alter Sitte nach Osterwasser.

Um 6 Uhr erklangen dann die Lieder des Posaunen- und Kirchenchores, vom sogenannten Sängerberg unweit der Kirche, zu Ehren des auferstandenen Heilandes. Viele eilten auf den Friedhof, um die Gräber ihrer Lieben zu schmücken, welche dann wie ein Blumenmeer prangten. Um 9 Uhr war Festgottesdienst mit heiligem Abendmahl. Schon im Introitus klang es uns entgegen: "Der Herr ist auferstanden. Ja, er ist wahrhaftig auferstanden."

Nachmittags um 2 Uhr fand eine Auferstehungsfeier statt. Der Pastor ging mit der konfirmierten Jugend geschlossen ins Gotteshaus, wo sich schon ein großer Teil der Gemeinde versammelt hatte, nach einem Osterliede hielt der Pastor eine kurze Andacht. Die Jugend bekannte dann den Glauben und das Tauf- und Konfirmationsgelübde. Nun wurden die Namen derer verlesen, welche von einem Ostern bis zum andern heimgegangen waren. Zu ihrem Gedenken wurde ein stilles Gebet getan. Nach Verlassen der Kirche ging es unter Posaunenklängen zum Friedhof, auch hier wurde ein Lied gesungen. Der Pastor hielt eine Andacht über ein Auferstehungswort. Nachdem die Jugend gesungen hatte "Wir wollen alle fröhlich sein in dieser österlichen Zeit", war die Feier beendet, welche alle Jahre gehalten wurde.

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Dorothee Schöne wuor a echt Reenswaaler Maaichen
Lebenserinnerungen: Als Kind und Lehrerin in Reinswalde
Einführung und Anmerkungen von Reinhard Steinke, Jever

Beim Heimatfest im Mai 1993 in Werben las ich aus Erinnerungen vor, in denen Dorothee Schöne (auch Dorothe, Dorothea genannt) von ihrer Kindheit in Reinswalde am Ende des vergangenen Jahrhunderts berichtet. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere daran. Jetzt fand ich in den Aufzeichnungen von Martha Lehmann, geborene Grätz (Mutter von Ella Friebe, geb. Lehmann, beide in Reinswalde geboren, Martha am 20.1.1895, Ella am 16.10.1919) einen eigentlich belanglosen Nebensatz, der diese Kinderzeit in einem ganz neuen Licht erscheinen läßt. Die Verfasserin Dorothee Schöne war nicht nur "a echt Reenswaaler Maa(i)chen", nein, sie war von April 1907 bis Dezember 1908 auch zweite Lehrerin an der lutherischen Schule in Reinswalde. Diese Tatsache ist neu, weil bisher niemand darauf aufmerksam machte und darüber in keiner der bis heute bekannten Aufsätze und Schriften über die Reinswalder Schulen und deren Lehrer etwas zu lesen war - auch nicht bei Erich Schwärzel im Sorauer Heimatblatt 9/1978. So soll in dieser und in den nächsten Ausgaben des Sorauer Heimatblattes an ein längst vergangenes, sich niemals wiederholendes Kapitel Reinswalder Geschichte erinnert werden - zum einen wird uns Lebenden eventuell Vergessenes ins Gedächtnis zurückgerufen und zum anderen haben diese Berichte aus der Vergangenheit unserer Väter durchaus den Zweck, unseren Enkeln und Urenkeln nicht nur als Quelle sondern auch als Ansporn für weitere Nachforschungen zu dienen.

 

Dorothee wird am 7.2.1885 in Reinswalde als 5. Kind des Paul Albrecht Schöne und seiner Frau Lina, geb. Ebel geboren. Dieser war 5. lutherischer Pfarrer in Reinswalde. Während seiner Amtszeit vom 16.1.1881 - 1892 wird das luth. Pfarrhaus und das zweite luth. Schulhaus gebaut (die drei Gebäude stehen heute noch). Zur Entlastung von Pfarrer Friedrich Georg Samuel Biehler in Guben (Schönes Vorgänger in Reinswalde von 1864 - 1881) wird 1888 die Gemeinde Friedersdorf von Guben getrennt und als Gastgemeinde in den Verband der Parochie Reinswalde aufgenommen. Im Gertrudenstift in Großenritte schließt Dorothee ihre Augen am 25.2.1972 im gesegneten Alter von 87 Jahren, als letzte der 10köpfigen Kinderschar. So hat dieser Bericht in diesem Jahr die unbeabsichtigte traurige Pflicht, ihrem Tod vor 25 Jahren zu gedenken. Von Dorothees 9 Geschwistern kommen noch 4 Brüder in Reinswalde zur Welt, nämlich Andreas (12.12.1881), Christian (24.9.1883), Johannes (14.5.1889) und der nur 20 Tage alt gewordene Paul (31.1.1891).

 

Diese Stelle eignet sich hervorragend, mich ganz herzlich bei dem Sohn des eben genannten Andreas zu bedanken, mittlerweile auch schon 80jähriger Neffe von Dorothee. Die selbstlose Bereitschaft von Herrn Christian Schöne mich mit Unterlagen, Bildern und Informationen zu versorgen, ist ja nun so selbstverständlich auch nicht, sie beweist aber die Verantwortung vor seiner Familie und der Reinswalder Geschichte. Alle Anfragen und Wünsche wurden innerhalb weniger Tage erfüllt, daher noch einmal - herzlichen Dank!

 

Zum besseren Verständnis sei noch angemerkt, daß Pfarrer Wilhelm Pfaff von 1892 - 5.11.1918 in Reinswalde Pastor Schönes Nachfolger wird; und für Dorothee Schöne kommt Anfang 1909 die Tochter des genannten Pastors Pfaff "unsre liebe langjährige Lehrerin Frl. Mathilde Pfaff", wie es bei Ella Friebes Mutter heißt. Interessante Stellen ergänze ich durch kursive Anmerkungen in der Hoffnung, daß sich Leserin und Leser an diesen Hinweisen erfreuen. Lassen Sie vor Ihren Augen Freuden und Ängste, Spiele und Streiche der Kinder vor einem Jahrhundert lebendig werden. Bangen Sie mit ihnen und freuen Sie sich, wenn der ausgeheckte oder unabsichtliche Streich gelingt. Handelt es sich doch um Schauplätze, die jedem Reinswalder vertraut sein müßten. Wer weiß, haben Sie nicht vielleicht auch ...???

 

Nach dieser doch länger gewordenen Einleitung soll nun endlich Dorothee Schöne zu Wort kommen.

 

 

Die Kindheit in Reinswalde 1885 - 1892

 

Wenn ich es wage, die vorangegangenen Familienereignisse und Gestalten zu ergänzen und abzuschließen mit der Darstellung meines eignen Lebens und den Kinder- und Jugendjahren meiner Geschwister, so geschieht dies aus der Erwägung heraus, daß gerade dies den Kindern meiner Brüder (oder doch einem Teil von ihnen) interessant und lieb sein würde und vielleicht lesenswerter als die Geschichten der Großväter und Urgroßväter, die ich selbst nur vom Hörensagen kenne und 150 bis 200 Jahre zurückliegen. Mein Bruder Konrad ist der Meinung, daß richtige Lebenserinnerungen alles bringen müßten, Gutes und Böses, Erfreuliches und Verabscheuungswürdiges. Aber wenn ich mich bemühen werde, die guten Seiten nicht zu verklären und zu verschönern, so muß ich auch das Böse so darstellen, wie ich es erlebt habe; aber beides gemildert und mit Verständnis und Liebe angesehen.

 

Das alte kleine Pfarrhaus in Reinswalde, in dem Andreas, Christian und ich geboren sind, steht nicht mehr unter dem dicken alten Nußbaum. Es war ein einfaches kleines Weberhaus mit wenigen Räumen und einer "blauen Türe, die in schiefen Angeln hing", wie Tante Emma in einem Silberhochzeitsgedicht gesagt hat. Es wurde 1888 abgerissen, nachdem auf dem Pfarrgrundstück, etwa 40 m entfernt ein neues zweistöckiges Pfarrhaus erstanden war. Ich habe also, da ich beim Bau des neuen Hauses erst 3 Jahre alt war, keinerlei Erinnerungen an das alte, auch nicht an meine 4 älteren Geschwister aus diesen frühsten Kinderjahren. Eine meiner allerersten Kindheitserinnerungen ist die, daß ich mit Andreas und Christian im Garten Nachtwächter spielte, d. h. Andreas als Nachtwächter trug auf der Brust ein blankes Schild, in der Hand einen derben Stock, auf dem Kopf eine Mütze; ob er auch eine Laterne und einen Spieß hatte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls ging er mit sehr großen Schritten die Gartenwege hin und her und spähte aus nach einem Nachtschwärmer oder Spitzbuben, der in Gestalt des nichtsnutzigen Christian sich irgendwo versteckt hielt.

 

Es war aber heller Tag und wohl ein Sonnabend nachmittag. Denn der alte Vater Graumann erschien auf dem Hauptweg, der von der Kirche her am Garten entlang zum Haus führte. Vater Graumann, ein kleines altes Männchen mit weißem stoppligen Bart war Balgentreter an der Orgel und kam, um die Lieder für den Sonntagsgottesdienst zu holen. Der Anblick dieses kleinen freundlichen Greises und die Tatsache, daß ich kleines Ding wohl etwas planlos hin und her lief zwischen Nachtwächter und Spitzbube, gab dem Spitzbuben einen fatalen Einfall. Er rief mir zu : "Geh gleich hin und gib Vater Graumann einen Kuß!" Wahrscheinlich war ich schon damals dafür bekannt, jeglicher Zärtlichkeit abgeneigt zu sein. Aber die Angst vor dem um 1 ½ Jahre älteren Bruder, unter dessen Botmäßigkeit ich damals stand, überwog meine Scheu und meine Abscheu, und ich tat wie mir befohlen. Auch sonst war das Hörigkeitsverhältnis zu diesem Bruder nicht immer beglückend für mich. Wenn ich ihm nachlief, wenn er im kleinen Wiesentümpel unten im Garten auf dem Wege zum Sängerberg oder in dem größeren Tümpel am Kirchviehweg gegenüber vom Haus, wo die heimkehrenden Kühe zur Tränke gingen - herumwatete und Kaulquappen, Blut- oder Pferdeegel fischte oder sonstwas herausholte, endete das oft damit, daß er mir solch ein schleimiges oder wabbeliges nasses Etwas in den Halsausschnitt am Nacken schob und sich dann davon machte, ohne mich davon zu befreien.

 

Seitwärts hinter dem Haus war eine schöne Rasenbank über die man durch eine Buchenhecke hinaufstieg zu dem dahinterliegenden Teil des Pfarrgrundstückes, das als Acker verpachtet war. Diese Rasenbank liebte ich sehr, sie lag versteckt und vom Kirchviehweg durch Sträucher gedeckt.
(Anm.: Rasenbank ist die ältere Bezeichnung für einen Hang mit einem abschüssigen Rasenstück zum Sitzen.)
Ich hatte die Gelegenheit, dort Grashalme zu essen, was mir von Mutter streng verboten wurde, wohl weil man damals noch nicht die Segnungen der vegetarischen Rohkost kannte. Ich konnte das Grasessen aber nicht lassen, meldete mich jedoch hinterher pflichtgemäß als ungehorsam und bekam meine verdiente Strafe.

 

Christian leistete sich andre Dinge, legte z. B. Briefe, die er für Vater in den Briefkasten am Kretscham stecken sollte, einfach unter eine Hecke auf dem Wege dorthin, wo sie vom Postboten gefunden und zurückgebracht wurden. Das frühe Zubettgehen war ihm langweilig, besonders wenn an Sommerabenden der Freund August Lehmann mit seinen Kühen laut singend vorbeikam.
(Anm.: vom Alter her wohl identisch mit August Lehmann, [als Landwirt im Adressbuch 1938 Nr. 126],
¥ Bertha, geb. ..., wohnte in Reinswalde, Dorfstraße 165; Tochter Frieda, Schneiderin).
Und eines abends hängte Christian bei der Gelegenheit einen Fensterflügel aus, der ihm vom 1. Stock aus herunterfiel auf eine am Haus stehende Gartenbank - ohne zu zerbrechen. An bestimmten Tagen des Monats hielt Vater in der Kirche die Aussegnungen der Wöchnerinnen, die ihren Kirchgang hielten. Christian fand auf einer seiner Entdeckungsfahrten die Kirchentür offen, ging hinein. Als er einige Frauen vor dem Altar knien sah, die von Vater angeredet wurden, gesellte er sich zu ihnen, kniete nieder und ließ sich mit segnen.

 

Öfter wurden wir ins Dorf geschickt, um etwas zu bestellen oder auszurichten. Im Oberdorf kam man an einem windschiefen, halb verfallenen Häuschen vorbei, mit tief herunterhängendem Strohdach und roten Feuerbohnen vor Fenstern und Tür. Ich war fest davon überzeugt, daß die Mutter Zindler, die dort wohnte mit ihren ältlichen Töchtern Kunigunde und Urigunde (woraus vielleicht Kundry de la Sorcière abgeleitet ist oder umgekehrt) eine Hexe sei. Wenn wir dort vorbeimußten, raste ich so schnell wie möglich vorbei, da Christian mir vorausgelaufen war, oder ich klammerte mich an Andreas ruhige Hand, der mich mit meiner Angst nicht im Stich ließ, wenn er mit dabei war. Hinterher kamen wir zu einer freundlichen Familie Weinert, die uns jedesmal mit dick gestrichenem Butterbrot, mit einer Decke von Zucker bestreut, bewirteten. Ich höre noch heut, wenn ich daran denke, das Knirschen des Zuckers unter den Zähnen.

 

Andreas war ein stiller, geduldiger und sehr friedliebender Bruder, man konnte sich überhaupt nicht mit ihm zanken. Ich glaube auch nicht, daß er von den Eltern jemals gestraft werden mußte. Als ich eines Tages, vom Vater geführt, mit greulichen Zahnschmerzen zum Dorfbader Ernst Mielisch gebracht wurde, kam er uns nachgelaufen mit seinem besten roten Taschentuch mit einem Bilde von Kaiser Wilhelm, damit ich etwas zum Abwischen von Blut und Thränen in der Hand hätte. Mielisch Ernst nahm eine Zange, seine alte Mutter hielt mir den Kopf fest, und dann kam nach einigen Ansätzen der Zahn heraus. Es war offenbar schon ein großer Backenzahn, denn die Lücke habe ich behalten, bis in Bünde eine ganze Prothese meinen Mund zierte.
(Anm.: Ernst Mielisch und Pauline, geb. ..., [als Auszügler im Adressbuch 1938 Nr. 160], wohnte in Reinswalde, Dorfstraße 47; Sohn Alfred Mielisch, [160]
¥ Martha Kloß (Oberkloß))

 

12. Januar 1960: Nach leider etwas langer Pause versuche ich den Faden der Erinnerung hier wieder aufzunehmen.

 

Unser Vater war für Politik stark interessiert und - wie sich das für einen Pastor der Bismarckschen Zeit nach der Reichgründung von selbst verstand - konservativ und ein Feind der Sozialdemokraten, die damals in Deutschland etwa die Rolle spielten, wie jetzt die Kommunisten. Ich glaube, Vater hat sogar einmal eine Wahlrede gehalten. Das würde heut nicht mehr nötig sein, da die SPD bürgerlich und christlich bejahend geworden ist. Wir Kinder waren natürlich auch sehr patriotisch. Ich besinne mich, daß an einem Geburtstag des "Alten Kaisers" (Wilhelm I.), 22. März, das Fenster des Studierzimmers hell mit Kerzen erleuchtet war, die ein Bild des Kaisers einrahmten. Wir Kinder standen draußen davor und sangen "Heil Dir im Siegerkranz", und am lautesten sang in heller Begeisterung Andreas, machte dann hohe Luftsprünge und schrie Hurra. Auch Jahre später noch in Ohlau war er so patriotisch entflammt. Als der Erbprinz Bernhard von Weimar, Schwager Wilhelms II. zu einer Regimentsbesichtigung nach Ohlau kam, liefen die Kinder in Haufen hinter und neben dem Wagen her. Andreas kam unvermutet spät nach Haus und auf Mutters Frage, wo er so lange geblieben sei, antwortete er mit kaum vernehmbarer heiserer Stimme, er sei hinter dem Wagen des kom. Generals des Erbprinzen durch die ganze Stadt gelaufen und hätte Hurra geschrien.

 

Nun, nach Reinswalde kam kein Erbprinz und kein General, aber wenn Manöver war, wurden die Offiziere mit Burschen bei uns im Pfarrhaus einquartiert, das war der schönen Pferde wegen ein besonderes Vergnügen für die Brüder. Aber das einzige, was uns noch sichtbar an sie erinnerte, waren freundliche Abschiedsworte im Gästebuch.

 

Wenn am 2. Sept., am Sedanstag, das große Kinderfest im Dorf gefeiert wurde, auf der Wiese bei August Hübners Hof, wo eine riesenhafte alte Kastanie stand,
(Anm.: August Hübner, [Nr. 96 des Adreßbuches], Dorfstr. 126, Alt-Bürgermeister, Großvater von Christa Woithe, Cottbus)
machte Mutter für Hanna und mich 2 Kränze aus kleinen Astern, die Jungen bekamen Fähnchen. Andreas zog seine großen Sonntags-Schaftstiefel an, aus denen er abends nur mit Mühe wieder herauskam, und wir versammelten uns mit den andern Schulkindern vor den Schulhäusern bei der Kirche. (Andreas hat, wie ich nebenbei bemerke, die Vorliebe für Schaftstiefel beibehalten, er trägt noch heute
(Anm.: also 1960)
mit 78 Jahren nur Knobelbecher, obschon ein Gegner der stiefeltragenden Nazibrüder). Der ganze lange Kinderzug ging durchs Dorf bis zur Wiese. Dort hielt Vater als Ortsschulinspektor eine Ansprache, die mit einem Hoch auf König und Vaterland schloß und dann begannen die Belustigungen und Spiele. Für die Jungen vor allem das Erklettern der hohen Stangen, an deren äußerster Spitze ein Paar Würstchen hing als Siegespreis. Wir Mädchen spielten unsre Kreisspiele: "Ein Schäfersmann ging vor dem König sein Haus" oder "Es regnet auf der Brücke". Und dann eventuell noch Sackhopfen, wobei man auch einen Preis gewinnen konnte, aber sicher kein Würstchen, denn die waren den Knaben vorbehalten. Wir bekamen vielleicht einen Kuchenkringel, eine Brezel oder eine Semmel. Um 6 Uhr abends hielt dann der alte Kantor Jungermann eine Dankrede zum Abschied, die Bläser waren da, wir sangen "Nun danket alle Gott" und dann ging unter Posaunenklängen der Zug zurück zu den beiden Schulen.

 

Ein besonderes Vergnügen im Winter war für uns die Fahrt nach Sorau, 10 km weit, wo die Eltern Weihnachtsbesorgungen machten. Dazu wurden bei einem Bauern 2 Pferde bestellt, die große Pfarrkutsche aus der Remise geholt, und dann durften wir 4 Großen einsteigen. Mutter saß mit Vater im Fond, Andreas vorn beim Kutscher, Hanna, Christian und ich auf dem Rücksitz. Es war sehr schön, und wäre noch genußreicher gewesen, wenn ich mich nicht wieder mit Christian gezankt hätte. Der sprang vor Begeisterung über das, was er durchs Fenster auf der Straße sah oder aus Freude über die bevorstehenden Genüsse fortwährend vom Sitz auf und trat mich dabei tüchtig auf die Füße, was ich natürlich nicht stillschweigend über mich ergehen lassen konnte.

 

In Sorau fuhren wir durch ein altes Stadttor, dann durch eine torartig überwölbte Durchfahrt, ich glaube, es war das alte Schloß, das jetzt das Amtsgericht beherbergte. Noch heute höre ich Klappern der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster, das mir noch in der Erinnerung angenehm stolz und heroisch in den Ohren klingt, nicht zu vergleichen mit dem Schnaufen, Surren und Quietschen der heutigen Autos. Im "Weinberg" wurde ausgespannt. Dieser alte Gasthof am Rande der Stadt ist mir darum in deutlicher Erinnerung, weil ich dort auf dem großen Hof oder Vorplatz einmal eine große Prügelei von scheinbar angetrunkenen Arbeitern sah, wobei der kluge Chri­stian mir erklärte: Das sind Sozialdemokraten. Die Eltern hielten sich aber bei den Sozialdemokraten nicht auf, sondern gingen mit uns in die Stadt. Ich kann mich nicht besinnen, daß weihnachtliche Schaufenster mir großen Eindruck gemacht hätten. Bemerkenswert war nur, daß Andreas diese Wanderungen durch die Straßen fast nie mitmachen konnte, weil ihm von der Wagenfahrt übel geworden war, und er mußte in der Konditorei Steinchen (oder Steingen) bleiben, wo er ein Glas Wasser bekam und auf ein Sofa gelegt wurde. Er war ein blasses schwächliches Kerlchen und hatte viel Kopfschmerzen. Zum Schluß kamen wir alle in die Konditorei zurück und bekamen etwas Süßes zu essen, wahrscheinlich Apfelkuchen, den Vater immer zu bestellen pflegte.

 

Es gab dicht bei Pfarrhaus und Kirche zwei Schulhäuser mit je einem Lehrer. Die Dorfkinder der evang. Bevölkerung gingen in die "Förderschule", eine einklassige Schule bei der evang. Kirche an der Hauptstraße. Drei Viertel des Dorfes war lutherisch, daher (war) unsere Schule viel stärker bevölkert in zwei getrennten Häusern. Unsre hieß im Dorf zum Unterschied die "Hingerschule", weil sie etwas abseits vom Dorf lag. Hanna war noch bei Kantor Walthelm in die Schule gegangen mit einem dunkelbraunen, schmalen, länglichen Deckelkorb für die Bücher. Schulmappen gab es für die Mädchen noch nicht, höchstens Taschen aus einer Art Sackstoff; Ranzen auf dem Rücken trugen nur die Jungen.
(Anm.: Schwester von Dorothee, * Guben 29.5.1879,
¥ Martin Kregel, später Pastor in Militsch; s. a. am Ende dieser Erinnerungen)

 

Nach Walthelm kam Kantor Jungermann mit einer ganz jungen Frau und einer älteren Schwester, Tante Linchen Jungermann, die den Mädchen Nähen und Stricken beibrachte, während die Jungen turnten. Der alte Jungermann war etwas nörgelig, pedantisch und kränklich und ließ sich oft vertreten durch seinen Neffen Franz Vogt, der wohl als Primaner, später Student viel bei den Verwandten war. Er war nicht beliebt, denn trotz seiner kleinen Gestalt war er sehr energisch, ungeduldig und prügelbereit. Die Mädchen pflegten sich unter den Jacken dicke Polster auf die Achseln zu legen, weil dann der Rohrstock nicht so zog. Ob die Jungen sich auch den Hosenboden polsterten, weiß ich nicht. Hanna hat die Schule wohl nur kurz besucht. bekam dann Unterricht von Vater und Mutter und schließlich monatelang in Herischdorf, wo sie bei Großmutter Schöne wohnte und bei Großvater Ebel Stunden bekam.

 

Inzwischen wurde ein zweites Schulhaus gebaut und ein junger Lehrer angestellt, der im kleinen Schulhaus die vier unteren Klassen in zwei Abteilungen unterrichtete. Bei ihm begannen Andreas und Christian ihre Studienjahre. Christian lief mit seinem um 2 Jahre älteren Bruder mit zur Schule und fing an alles mitzulernen. Das wurde aber auf die Dauer nicht erlaubt, er blieb wieder zu Hause; und als er dann seinem Alter gemäß wieder anfangen sollte, hatte er das erste Lesen vergessen und mußte mit größter Mühe ganz neu anfangen zu buchstabieren und lautieren.

 

Herr Hoffmann war noch sehr jung und unverheiratet, er hatte eine sehr ruhige und geduldige Art mit den Kindern, kam alle Tage zu Tisch zu uns ins Pfarrhaus und lernte bei den Eltern beispielsweise einige Tischsitten, die Mutter so anbrachte, daß sie uns Kindern sehr energisch schlechte Manieren verwies. Außerhalb der Schule war er ein guter Spielkamerad für meine großen Brüder. Ich sehe ihn noch in seinem blauen kurzen Gehröckchen, das er mit blauen Perlmuttknöpfen trug (er war sehr armer Leute Kind aus Benau), wie er mit Christian und Andreas auf der Jagd nach Karnikkeln um Haus und Scheune herumschlich und rannte, um die Tiere, unter Brettern und Balken verkrochen, hervorzujagen. Diese Vertraulichkeit verführte Christian zu kleinen Unverschämtheiten. Eines Morgens begrüßte er ihn beim Eintritt ins Schulzimmer mit laut schallender Stimme: "Herr Dreschflegel, guten Morgen!" Als Vater das durch Andreas oder Herrn Hoffmann erfuhr, gab es ein kleines Strafgericht, und dann mußte der Frechling gehen und Abbitte leisten. Damit das auch sicher geschah, wurde er der großen Schwester Hanna an die Hand gegeben. Er riß sich aber los und rannte fort, das glückte ihm zweimal. Erst beim dritten Gang konnte sie ihn am Ziel abliefern.

 

Die beiden ältesten Brüder haben ihre ganze Schulzeit gemeinsam durchlaufen, und Vater fing schon beizeiten mit Latein bei ihnen an, während Hanna bei Mutter Französisch lernte. Ich bekam noch vor meiner Schulzeit den ersten Religionsunterricht bei Hanna. Sie lehrte mich biblische Geschichten mit der großen Bilderbibel; und den ersten Liedvers, den ich bei ihr lernte, habe ich nicht wieder vergessen:

                   "Dem Herren mußt du trauen,
                   wenn Dir's soll wohlergehn,
                   auf sein Werk mußt du schauen,
                   wenn Dein Werk soll bestehn.
                   Mit Sorgen und mit Grämen
                   und mit selbsteigner Pein
                   läßt Gott ihn gar nichts nehmen,
                   es muß erbeten sein."

Die beiden letzten Zeilen sind mir in späteren Jahren oft sehr bedeutungsvoll geworden, und ich habe spät und schwer gelernt, sie zu beherzigen.
(Anm.: Mit Sorgen ...)

 

Das Lernen wurde mir nicht schwer, man war ja den kleinen Dorfkindern von Haus aus überlegen an schneller Fassungsgabe und Sprach- und Sprechgewandheit. Nach 1 ¼ Jahr, als wir nach Ohlau übersiedelten, war mein Abgangszeugnis so vorzüglich, daß die Eltern sich einigermaßen wunderten, auf meinem ersten Zeugnis in der Mädchenmittelschule lauter: "Ziemlich Genügend" und ähnliches zu lesen. Ich war unter den feinen Stadtkindern so verschüchtert und noch verschlossener als sonst, daß ich kaum den Mund auftat, im Unterricht nie fragte nach Nichtverstandenem und den Zeigefinger nur hob, wenn ich meiner Sache ganz sicher war.

 

Noch einige Erlebnisse aus der Vorschulzeit sind mir in Erinnerung. Wir Kinder hatten einen herrlichen, viersitzigen Schlitten mit einer richtigen Deichsel und einem Bedientensitz hinten, der mit rotem Tuch gepolstert war. Es kam wohl vor, daß irgendwer aus dem Dorf einen Ziegenbock lieh, der den Schlitten dann zog. Meist aber waren Andreas und Christian, vielleicht auch Albrecht Brandt
(Anm.: Auf ihn geht Dorothee im letzten Absatz ausführlicher ein)
oder eins der Kindermädchen vorgespannt. Christian mit Peitsche saß hinten auf dem roten Sitz, und dann klingelten wir durchs Dorf, ganz ungefährlich, weil es keine Autos gab. Besondere Freude war es, wenn wir zum alten Vater Tschisank fuhren, der an einem Tage mit mir Geburtstag hatte, und dem ich gratulieren mußte mit einem Korbe frischer Pfannkuchen, die Mutter gebacken hatte.
(Anm.: Geburtstag für beide also der 7. Februar. Tschisank kam und kommt als Name in den verschiedensten Schreibweisen in Reinswalde vor. Eindeutige Zuordnungen sind nach heutigem Stand nicht möglich gewesen.
Der genannte "alte Vater Tschisank " wird wohl ein Kind oder Enkelkind der folgenden Namensträger von 1812 sein, da in der Steuerliste am 15.5.1812 erstmals eine Familie dieses Namens in Reinswalde genannt wird: Auszügler Andreas Tzschiesang wohnt mit seiner Frau bei Gärtner Gottlieb Tzschiesang, vermutlich beider Sohn.
Bekannter sind sicher Hermann Hänisch, er wohnte 1938 mit seiner Frau Klementine, geb. Schiesantk und den Kindern Gerhard und Paul Dorfstr. 117; und Adolf Weinert, Landwirt und Fleischbeschauer von der Dorfstraße 42, war mit Pauline Tschiesank verheiratet; beider Kind Lina war verheiratet mit Walter Hänisch, dem Sohn von Müller-Hänisch.)

 

Als Spielplatz sehr beliebt war der "Sängerberg", eine sandige Anhöhe mit Kiefern bewachsen, die an einer Stelle steil abfiel zu einer Sandgrube und einem kleinen Tümpel. Hier, oberhalb des Dorfes, versammelten sich am Ostermorgen bei Sonnenaufgang, also gegen 5 Uhr, die Sänger und Posaunenbläser und ließen die ersten Osterlieder durchs Dorf tönen, zogen dann alle zum Friedhof und schmückten die Gräber.
(Anm.: siehe auch Sorauer Heimatblatt März 1997 Seite 4, Osterzeit und Ostern in Reinswalde)

 

Die weitausgedehnten Kiefernwälder mit Moos und Pilzen waren für die Eltern und Kinder beliebte Spazier- und Wanderwege, besonders wenn es an Berghänisch's Teich vorbeiging, wo die großen Wasserrosen blühten. Der weiteste Weg, den ich mitgemacht habe, ging nach dem ein paar km entfernt liegenden Dorfe Nimpsch am Bober, dazu mußte man auf einer richtigen Furt, die durch große Steine be­zeichnet war, durch den für unsere Begriffe schon sehr breiten Bober waten. Erwachsene und Kinder zogen also Schuhe und Strümpfe aus und gingen durch das seichte Wasser. Ich als Kleinste wurde dem langen Vetter Eduard, der gerade zu Besuch bei uns war, auf die Schulter gesetzt. Mitten im Fluß glitt er wohl aus, und ich fiel ins Wasser, mußte dann bei den Gemeindegliedern, die Vater besuchte, Kleider und Schuhe leihen, und in solcher Verwandlung wurde ich trocken wieder nach Hause gebracht. In Nimpsch war man dann schon in Schlesien.

 

Durchs Dorf schlängelte sich über Steine durch die Wiesen ein reizender kleiner Bach, an dem Weidenbüsche und Erlen standen, es war herrlich auf den großen Steinen zu springen und zu laufen, anstatt über das Brückchen und auf dem Wege zu gehen. Seitwärts davon lag ein großer Teich oder irgendein stehendes Gewässer, wahrscheinlich ein alter Wallgraben, der einmal eine Wasserburg eingeschlossen hatte, wohl noch aus der alten wendischen Zeit her. Jetzt lag dort ein großer Bauernhof, der dem Bauer "Wallwuntke" gehörte. Mit Gruseln hörten wir erzählen, daß unter dem Wallgraben durch einen unterirdischen Gang zur alten Kirche im Dorf führte, der aber jetzt durch eine schwere Eisengittertür abgeschlossen war. Wir stellten uns das als ein Verließ für Räuber vor.

 

Die sehr schöne alte Kirche, wohl noch aus dem Mittelalter stammend, stand ungefähr mitten im Dorf, erhöht über der Hauptdorfstraße und wirkte mit der hohen Einfassungsmauer wirklich wie eine Fluchtburg. Über die Straße weg, tief unten, lag das große evangelische Pfarrhaus, ein wunderschöner stattlicher Bau, der mit dem hohen Dach fast wie ein Barockbau aussah. Es war aber, wenn man hineinkam, düster und feucht; nach der von der Straße entgegengesetzten Seite kam man durch einen großen Garten ganz in die Nähe von dem mit grüner Entengrütze bedeckten Wallgraben.
(Anm.: Im Sorauer Heimatblatt März und April 1996 sind Bilder von der ev. Kirche innen und außen, vom Pfarrhaus und der Schule zu bewundern.)
Ich bin wohl nur ein- oder zweimal in das Pfarrhaus gekommen, aber Hanna verkehrte etwas mit einer Tochter von Pastor Lukas. Der war noch lutherischer als wir. Er ist später, nach unserer Zeit, zu den Missouriern nach Sachsen gegangen, liegt aber in Reinswalde begraben. Auf seinem Grabkreuz las ich nach Jahren nichts als seinen Namen und darunter:
                   "Hier kommt ein armer Sünder her,
                   der gern ums Lösgeld selig wär."

(Anm.: Paul Wilhelm Heinrich Alexander Lucas, von 1881 - 1900 ev. Pfarrer in Reinswalde; * Berlin 26.6.1841, † Reinswalde 29.7.1900,
 Reinswalde, ¥ Berlin 4.7.1870 Martha Jacoby-Lebus); dieses Wissen " ... las ich nach Jahren ..." stammt wohl aus ihrer Zeit als Lehrerin in Reinswalde.

 

Gern besuchten wir im Dorf die kleine Mutter Mielisch mit ihrer noch kleineren und buckligen Tochter Mariechen, die sich durch Nähen unterhielten. Vater hatte ihr von Herrn Wilke in Guben eine schöne Nähmaschine besorgt, auf die sie sehr stolz war. Wenn wir dort waren, gab es für uns Kinder immer irgendeine süße Kleinigkeit, und Andreas mußte dann sein Lieblingslied singen:

                   "Die armen Heiden dauern mich, denn ihre Not ist         groß."

 

Manchmal wurden wir auch zu Kaffee und Kuchen bei der Besitzerin des hübschen Hauses, Frau Wolff, eingeladen. Dann durften wir auf dem Heuboden spielen. Sie war eine wohlhabende Witwe und hatte ihr großes Gut an den alten August Hübner verkauft. Ihr einziger Bruder war vornehm geworden, hatte studiert, ohne aber etwas Ordentliches damit zu erreichen. Seine Besuche im Dorf bei der Schwester waren unerfreulich, denn er trank.
(Anm.: August Hübner, [Nr. 96 des Adreßbuches], Dorfstr. 126, Alt- Bürgermeister, Großvater von Christa Woithe, Cottbus; siehe auch Abschnitt Kinderfest am Sedanstag).

 

Aber noch viel interessanter war der Haupttrunkenbold des Dorfes, der Krauseflöter, Schwager unsrer guten Clementine Schmidt, die dann einen Flöter heiratete. Krauseflöter ging alle paar Wochen schwer betrunken durchs Dorf und torkelte manchmal den Kirchviehweg hinauf an unserm Hause vorbei, mit dem Stock fuchtelnd, auf den Pastor schimpfend und fluchend, manchmal auf französisch; denn er rühmte sich gern seiner höheren Bildung.
Hänisch Herrmann, [62], laut Adressbuch von 1938: Landwirt;
geboren am 23.1.1880 , gestorben am 5.3.1941;
Ehefrau: Clementine geb. Schmidt, geb am 29.7.1881 gestorben 1.2.1963 in Ablaß;
Kinder: 2 Söhne Gerhard Hänisch und Paul;
Wohnte in Reinswalde: Dorfstraße 117.

Dorothee Schöne wurde am 7.2.1885 geboren, ihre Erinnerung an "unsre gute Clementine Schmidt" läßt auf "Babysitten bei Pastor Schöne" schließen, nur bei "Ehemann Flöter" hat sie geirrt.
Quelle: Das Dorf-Archiv von Reinswalde mit Stand vom 6.10.1997

(Anm.: Hier wird zwar etwas Unerfreuliches aus dem Dorfalltag berichtet; doch auch diese Episode gehört zur Geschichte des Dorfes Reinswalde und darf nicht verschwiegen werden. Leider ist der Begriff "Krauseflöter" bisher nicht zu "knacken" gewesen. Verbindungen zu vorherigen und nachfolgenden Generationen waren nicht herzustellen, obwohl beide Namen 1938 in Reinswalde nachgewiesen sind - also nur Mut Ihr "Krause- und Flöter-Nachfahren". Entsprechende Hinweise werden von Klaus Winkler und mir dankbar entgegengenommen.)
Einmal kamen wir Geschwister, Hanna, die Jungen und ich, von Benau her, wohin wir Vater zur Bahn gebracht hatten. Plötzlich hörten wir hinter uns Schritte, Grölen und Schreien. Es war Krauseflöter, vor dem wir entsetzliche Angst hatten, weil er immer mit dem Stock nach dem Pfarrhaus hin drohte. Wir liefen so schnell uns die Beine trugen und entwischten glücklich durch die Kornfelder zwischen den hohen Halmen durch.
(Anm.: Die feierliche Eröffnung des Reinswalder Bahnhofes am 15. Juli 1893 erklärt diesen langen Spaziergang nach Benau und zurück. Dorothee Schöne hat durch den Wegzug der Familie 1892 nach Ohlau dieses große Ereignis nicht miterlebt. Ich bin aber sicher, daß sie und später ihr Besuch die Vorzüge dieser Bahnstation in Anspruch genommen haben.)

 

Eine andre, wenn auch kleinere Angst waren die Gänse, die aus einem Bauernhof heraus schrien und hinter uns her kamen, wenn wir drei hinter der Hecke her zum Wagnerschuster gingen, der unsre durchgestoßenen Schuhe vorn mit Blechkappen abdeckte. Christian pflegte mit einem Stock die Gänse zu necken, aber ich bin nur einmal in die Wade gezwickt worden.
(Anm.: Der Name Wagner und der Begriff Schuster kommen 1938 in Reinswalde im Adressenverzeichnis getrennt vor. Einmal in Verbindung zu Schuhmachermeister Traugott Bogisch (genannt Schuster-Bogisch), Dorfstr. 65 - Sohn Emil Bogisch war Bauunternehmer und Zimmermeister; und dann zu dem 1880 geborenen Paul Winzer, genannt Winzerschuster, wohnhaft Dorfstraße 130. Der von Dorothee Schöne erwähnte Name "Wagnerschuster" ist wohl dem Schwiegervater der 1938 genannten Witwe Auguste Wagner, geb. Berthold zuzuordnen, sie wohnte Dorfstraße 52; das Haus lag etwas abseits der Hauptstraße - Nachbarn waren seitlich Gastwirt Blobel, rückwärtig Hermann Lehmann und gegenüber Gustav Wolf. Ihre Tochter Frieda ist mit Gustav Kräske, Dorfstraße 166 verheiratet - im Oberdorf zwischen August Lehmann und Hermann Pohl.

 

Mutter hielt uns frühzeitig zu allerlei Pflichten an, Vater ordnete das Jäten im Garten an, das besonders für Albrecht und Christian eine schwere Anfechtung war. Wie oft hat Andreas den beiden Faulen große Stücke Arbeit abgenommen. Für mich war es eine Prüfung, wenn ich kleine Brüder im Kinderwagen fahren mußte, hauptsächlich den kleinen niedlichen Paul. Denn damals ließ man die Babies noch nicht ruhig stehen und schreien, sondern sie mußten eben hin und her gefahren werden. Tante Luise Karbe hat mich oft damit geneckt, daß ich das Brüderchen im Kinderwagen durch den großen Hausflur schob in einem rasenden Tempo, daß der Wagen hinten anstieß, daß es nur so krachte - und dabei zum Einschläfern des Kleinen mit schriller Stimme gesungen hätte:

                   "Wach auf mein Herz und singe!"

 

Etwa 1889 kam Albrecht Brandt, etwa 8 oder 9 Jahre alt zu uns ins Haus.
(Anm.: Albrecht wird einige Abschnitte zuvor bereits einmal bei der Schlittenfahrt durchs Dorf erwähnt.)
Er war ein Neffe von Onkel Christophs erster Frau, Tante Marthe. Seine Eltern starben früh und hinterließen wohl 4 oder 5 unversorgte Kinder. Da Tante Martha damals schon krank lag und sie in kümmerlicher wirtschaftlicher Lage waren, nahm Vater den kleinen Albrecht zu uns 5 noch dazu. Er blieb bis zur Übersiedlung nach Ohlau bei uns, kam dann in ein Waisenhaus nach Potsdam. Albrecht war ein guter Spielkamerad, aber faul und gefräßig, konnte nie die lateinischen Vokabeln und saß immer irgendwo mit Bock (zum Sitzen) und Buch (latein. Grammatik) herum. Mutter war er nicht sympathisch, aber sie hat es ihn nie fühlen lassen, und er hat bis in sein Alter hinein eine schwärmerische Dankbarkeit und Anhänglichkeit an das Reinswalder Pfarrhaus sich bewahrt. Reinswalde war und blieb für ihn das Kinderparadies, und er gelobte sich, seine Kinder einmal gleich spartanisch zu erziehen, mit Roggenmehlsuppe zum 1. Frühstück und bei Tisch auf einem 3-beinigen Bock sitzend, damit man sich nicht anlehnen konnte. Aber nur die drei Jungen hatten solche Böcke. Heut sitzt die Jugend auf Barhockern vor der Theke, und sie trinken Cocktails.
(Anm.: Ende der Kindheitserinnerungen)

 

Von 1907 bis Ende 1908 war ich dann als 2 Lehrerin in Reinswalde angestellt, wo ich viel Anhänglichkeit und Zutrauen erfahren habe von Vaters früheren Gemeindekindern. Ich wohnte dort ganz allein im kleinen Schulhaus und habe das sehr genossen, hatte auch zeitweise wochenlang Besuch von Hanna, Tante Luise, einmal auch von Martin und Johannes.

 

Am 8. Okt. 1908 heiratete Hanna Martin Kregel, damals Pastor in Schwirz. Sie ist sehr glücklich gewesen, wenn auch nicht ohne Trübung und Verzichtenmüssen. Sie hat keine Kinder gehabt. Mutter war nun allein mit den jüngsten Brüdern, die noch zur Schule gingen - und mit mindestens 4 Pensionären, die sie noch haben mußte, um mit der kleinen Witwenpension die 3 Jüngsten fertig zu kriegen. Ich gab also Reinswalde auf und war vom 1. Januar 1909 an wieder Haustochter.

 

(Anm.: Bei den "Pensionären" handelt es sich um Schüler, die mit im Haus wohnten.
Tja, liebe Reinswalderinnen und liebe Reinswalder und Ihr vielen anderen Leserinnen und Leser. Das war sie nun, die noch einmal in Gedanken erlebte Kindheit unserer Dorothee Schöne, von der man zu Recht behaupten kann, sie "wuor a echt Reenswaaler Maa(i)chen". Pastor Schöne war am 12.1.1906 in Ohlau verstorben. Was lag da näher, als mit dem knappen Hinweis zu schließen, mit dem sie viele Seiten später in ihren Lebenserinnerungen noch einmal eine kurze Zeit Reinswalde erlebte, dann Abschied nahm und als Haustochter ins vaterlose Elternhaus nach Ohlau zurückkehrte.)

 

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Reinswalder Erinnerungen 1900 - 1945
von Martha Lehmann, geb. Grätz

 

 

Die nachfolgenden Aufzeichnungen sind handschriftliche Erinnerungen von Martha Lehmann, geb. Grätz (* 20.1.1895, † ..... 7.6.1964), der Mutter von Ella Friebe, geb. Lehmann, * Reinswalde 16.10.1919, † Görlitz 3.1.2006. Es handelt sich hier um die Familie von Max Lehmann, die zur Miete bei Gerhard Gärtner in Reinswalde, Dorfstr. 20 wohnten.
Ella Friebe wohnte zuletzt in 02826 Görlitz, Demianiplatz 19-20
(Stand:1.6.2002
25. September 2014).

 

Etwa in der Mitte des Textes beendete ich am 23.11.2000 die Abschrift der von meinem Cousin Helmuth Merkwirth überlassenen Kopie eines DIN A 5 Schreibheftes mit dem Satz "Das Heizen der Öfen übernahmen etliche Brüder ...". Kopien von Klaus Winkler unterbrachen den Text ebenfalls an dieser Stelle im Jahr 1933, die Erinnerungen werden aber mit Lücken zwischen 1933 und 1935 fortgesetzt!
Erst am 1.6.2002 erhielt ich das Original von Herrn Krause, Dortmund und konnte die fehlenden Textteile einfügen.

 

 

Ein Abschnitt aus dem Leben unsrer ev.-altluth. Gemeinde zu Reinswalde von 1900 - 1945

 

In den Jahren vor dem ersten Weltkriege fanden in der Gemeinde Reinswalde etliche Missionsfeste statt, das letzte 1913 geleitet von unserem lieben Pastor und Sup. Pfaff. Umrahmt von den Klängen des Posaunen- und Kirchenchors. Missionare und Missionsdirektoren waren dazu eingeladen. Vormittag war Festgottesdienst in der Kirche. Nachmittags fand die Nachfeier bei schönem Wetter im Pfarrgarten statt. Sie berichteten uns von ihrer Arbeit draußen unter den Heiden, es währte oft lang, bis ihre Arbeit Erfolg hatte, aber auch welchen und wieviel Gefahren sie ausgesetzt waren. Auch von der Innern- und Judenmission wurde uns berichtet. Andächtig lauschte die Gemeinde den Worten der Missionare. Die Gaben dieses Festtages waren für die Mission.

 

Im Jahre 1907 legte der zweite Lehrer unserer Schule, der Lehrer Julius Schulz aus gesundheitlichen Gründen sein Amt nieder und zog nach Lübben. An seine Stelle kam die Lehrerin Dorothea Schöne, Tochter des Pastors Schöne, welcher einmal Pastor der Reinswalder Gemeinde war. Aber schon nach 2 Jahren 1909 ging sie wieder weg, und ging nach Militsch.
(Anm.: Das stimmt so nicht ganz, sie war zwar von April 1907 bis Dez. 1908 in Reinswalde 2. luth. Lehrerin und ging dann als Haustochter ins vaterlose Elternhaus nach Ohlau zurück; doch nach Militsch zog ihre Schwester Hanna mit ihrem Mann, der dort Pfarrer wurde; s. Erinnerung Dorothee Schöne im Sorauer Heimatblatt August 1997 ff.)

 

An ihre Stelle trat nun unsre liebe langjährige Lehrerin Frl. Ma­thilde Pfaff, Tochter des Pastors und Sup. Wilhelm Pfaff, welcher in dieser Zeit Pastor der Gemeinde war.

 

Recht segensreich waren dazumal die Christenlehren, oder wie wir sagten, die Betstunden, sie wurden jeden Sonntag Nachmittag von Ostern bis Erntedankfest gehalten. Daran nahmen alle Schulkinder, die konfirmierte Jugend bis zu 20 Jahren und auch viele Gemeindeglieder teil. Da unsre Gemeinde sehr groß war, hatte sie der Pastor in 4 Teile eingeteilt, die Konfirmierten, welche nun in dem Viertel wohnten, hatten dann ihren Betsonntag. Daran nahmen auch die auswärtigen Konfirmierten teil. Die Letztkonfirmierten gingen soviel es möglich war jeden Sonntag. Sie versammelten sich vorm Pfarrhaus und gingen geschlossen mit dem Pastor in die Kirche. Sie nahmen in der ersten Bank Platz. Die ältere Jugend gingen nach Jahrgängen. Es waren wirklich segensreiche Erbauungsstunden, da es ja immer eine Wiederholung des Katechismus und der Lieder war, auch wurden Neue dazugelernt. Als aber der Zeitgeist die Jugend immer mehr in seinen Bann zog, wurden die Stunden gleich nach dem Gottesdienst gehalten. Das war dann wenige Jahre vor dem 2ten Weltkriege.

 

1910 konnte Pastor Pfaff sein 40jähriges Amtsjubiläum feiern. Vom Oberkirchenkollegium war er auch zum Superintendent der Niederschlesischen Diözese berufen worden. Dieses Amt verwaltete er als ein treuer Diener des Herrn. 1912 starb ihm seine liebe Lebensgefährtin, unsre liebe Frau Pastor.

 

Im Sommer 1913 wurde das Innere der Kirche durch Malermeister Bergmann aus Grünberg erneuert. Er ist dann später mit seiner Frau nach Reinswalde gekommen. Er wurde dann auch als Kirchenvorsteher und Rendant der Gemeinde gewählt.
(Anm.: In den Aufzeichnungen im Dorf-Archiv von Klaus Winkler heißt es: Julius Bergmann, ..., zugezogen aus Berlin ca. 1910.)
Über dem Altarraum standen die Worte "Ein feste Burg ist unser Gott" und zu beiden Seiten Bibelsprüche. Über der Eingangstür im Turm "Bewahre deinen Fuß wenn du zum Hause Gottes gehest, und komm, daß du hörst." Pred. 4,11.

 

Im August 1914 brach der erste Weltkrieg aus und viele Brüder der Gemeinde und des Dorfes wurden zu den Fahnen gerufen, da gab es manchen schweren Abschied, bei manchen für immer. Bald kamen auch die ersten Nachrichten, daß etliche Lieben gefallen waren. Nun kam es an unsern lieben Pastor Pfaff, welcher nun seines schweren Amtes walten mußte, um die Hinterbliebenen zu trösten und er tat es in liebevoller väterlicher Weise, da er ja in der Gemeinde wie ein Vater waltete und von den Meisten Vater Pfaff genannt wurde.

 

1917 mußte die Gemeinde zwei ihrer schönen Glocken hingeben. Dies war ein schweres Opfer für die Gemeinde, als auch für den Pastor.
(Anm.: Die kleine lutherische Glocke hängt heute zusammen mit der mittleren Glocke - die mit dem beschädigten Rand und dem Durchmesser von 90 cm - aus dem Geläut der evangelischen Kirche von Reinswalde in der lutherischen Kirche. Durch die Minuskelumschrift hat sie sich letztendlich zu erkennen gegeben: "o rex glorie veni cum pace. ave maria gracia plena dominus tecum" ("O König  der Herrlichkeit komm mit Frieden. Gegrüßet seist Du Maria voller Ehre. Der Herr sei mit Dir.") Wie zu allen Zeiten getrennt, tragen sie heute beide gemeinsam ihre Botschaften weit in das Land hinaus. (s.a. Sorauer Heimatblatt 3 + 4/1996: Aus 650 Jahre Kirchengeschichte Reinswalde)
Unser lieber Pastor konnte im Sommer 1917 auf 25 Jahre zurückblicken, welche er in den Gemeinden Reinswalde und Friedersdorf gewirkt hatte.
(Anm.: Zur Entlastung von Pfarrer Friedrich Georg Samuel Biehler in Guben (Schönes Vorgänger in Reinswalde von 1864 - 1881) wird 1888 die Gemeinde Friedersdorf von Guben getrennt und als Gastgemeinde in den Verband der Parochie Reinswalde aufgenommen. s. Erinnerung Dorothee Schöne im Sorauer Heimatblatt August 1997 ff.)
Bei der Feier freute er sich schon auf sein 50jähriges Amtsjubiläum. Aber der Herr hatte es anders in seinem Ratschluß beschlossen. Als 1918 der Weltkrieg seinem Ende nahte, legte unser lieber Pastor und Seelsorger sein müdes Haupt zum letzten Schlummer nieder. Nach kurzer schwerer Krankheit holte ihn der Herr am 5. Nov. in sein himmlisches Reich, im Alter von fast 75 Jahren und im 49. Amtsjahre. Er darf schauen, was er geglaubt und gepredigt, seinen Herrn und Heiland. Er starb, wie er es sich wünschte, in den Sielen einer reichgesegneten Amtstätigkeit. Als die Kunde durch unser Dorf eilte, unser lieber Pastor sei heimgegangen, wollte Niemand die traurige Nachricht glauben. Hatte er ja noch zuvor an manchem Kranken- und Sterbebette gestanden, da ja eine tückische Krankheit unser Dorf heimsuchte. Er wurde unter großer Anteilnahme der Gemeinde von nah und fern am 8. Nov. auf dem Reinswalde Friedhof beerdigt. An seinem Sarge wie auch zu seinem Gedächtnis sangen wir sein Lieblingslied "Mitten wir im Leben sind, von dem Tod umfangen." Die Leichenrede hielt sein Schwiegersohn Pastor Burgdorf. Am Grabe sprach Pastor Matschoß aus Bunzlau. Auch etliche andere Pastoren begleiteten ihn zu seiner letzten Ruhestätte.
(Anm.: Es wird auch der 9. Nov. als Beerdigungstag genannt.);
Die Gemeinde war Waise geworden. Auch etliche Trauerbotschaften kamen noch, von denen, welche noch in den letzten Tagen ihr Leben gelassen hatten. Gefallen waren aus unsrer Gemeinde 36 und 5 Brüder starben noch an den Folgen des Krieges. Sie starben für uns! Und schlafen jenen großen Auferstehungsmorgen entgegen. Zu ihrem Gedenken wurden zwei Tafeln befestigt mit ihren Namen.
(Anm.: Der Teil einer Tafel befindet sich in meinem Besitz, ist 14,5 cm breit und 36 cm hoch, der untere Rand ist leicht nach oben ausgerundet. Das Holz ist durch seine Trockenheit in einem guten Zustand, auch die Schrift ist gut erhalten. Leider sind auf diesem Teil Namen nur bruchstückweise zu entziffern, z. B. Wierz, Ai..., Ba..., P..., Raben...; deutlich dagegen sind Monatsnamen und Jahreszahlen zu lesen. Neben anderen Stücken entdeckte ich diesen Teil der Erinnerungstafel bei systematischer Suche im Kirchturm der luth. Kirche. Diese Familiennamen kommen so in Reinswalde nicht vor, allerdings gehörten zum Einzugsbereich der luth. Gemeinde ebenfalls Familien aus den umliegenden Dörfer bis zum Bober.)

Im Frühjahr 1919 schenkte uns Gott der Herr einen neuen Pastor. Die Gemeinde wählte den Schwiegersohn unsers Pastors, Pastor Albert Burgdorf zu seinem Nachfolger, welcher bis dahin Seelsorger der Sorau-Saganer Gemeinde war. Bald hielt er mit seiner Familie seinen Einzug in Reinswalde.
(Anm.: Burgdorf war mit der ältesten Tochter Emilie von Pastor Pfaff verheiratet,; er war also auch Schwager zu Mathilde Pfaff..)
Die Gemeinde und auch die Chöre bereiteten ihm einen herzlichen Empfang. Das Gemeindeleben ging seinen altgewohnten Gang weiter. Nur den Turmbauverein, welchen Pastor Pfaff 1896 gegründet hatte, löste Pastor Burgdorf in "Jünglings- und Jungfrauenverein" auf.

 

Am 26. August 1923 konnte mit Gottes Hilfe wieder ein Missionsfest gefeiert werden, das Erste seit 1913. Dies war wieder ein Freudenfest nach soviel Jahren. Viele Gäste waren gekommen von nah und fern. Der Gottesdienst wurde eingeleitet mit einem Missionsliede. Wir wurden im Vormittagsgottesdienst wie auch am Nachmittag durch die Predigt und die Berichte hingeführt auf die Missionsfelder. Wir hörten von den großen und kleinen Nöten der Mission in den Kriegs- und darauffolgenden Jahren, aber auch von den gesegneten Erfolgen und Gnadenerweisungen Gottes. Habe der Krieg dem Missionswerk auch schwere Wunden geschlagen, so sei es ob geschlagen doch nicht zerschlagen. Mußten auch viele Missionare draußen ihr Arbeitsfeld verlassen, so erwählte Gott der Herr unter den Heidenchristen Hirten und Seelsorger, welche ihren Schwestern und Brüdern das Evangelium verkündigten. Auf etlichen Stationen konnten die Missionare und Diakonissen bleiben und ihre Arbeit fortsetzen. Die in die Heimat zurückgekehrten Missionare wurden als Pastoren eingestellt, hofften aber wieder hinausgehen zu dürfen um den Missionsbefehl unser Heilandes fortzusetzen. Die Kollekte wurde für die Mission bestimmt und der Herr segnete Geber und Gaben.

 

Im Juni 1924 konnte die Gemeinde ihr 75jähriges Gemeindejubiläum feiern. Auch dieses Fest war eine große Freude für die Gemeinde. Die Kirche war mit frischem Grün und Girlanden geschmückt. Gäste waren gekommen von nah und fern. Etliche Pastoren waren zugegen, wie Oberkirchenrat Nagel, Sup. Wichmann und Pastor Jungermann. Sonnabend Abend wurde schon eine Andacht im Pfarrgarten gehalten. Die Festpredigt am Sonntag hielt Oberkirchenrat Nagel oder Sup. Wichmann. Die Nachfeier am Nachmittag konnte, da schönes Wetter war, im Pfarrgarten stattfinden. Auch hier hatte sich wieder eine große Gemeinde versammelt. Der Ortspastor begrüßte die Gemeinde und die Pastoren legten ihrer Andacht ein Gotteswort zu Grunde. Oberkirchenrat Nagel führte die Gemeinde in seiner Andacht an ein Erbsenfeld. Er sagte, die Erbsranken seien so fest ineinander verankert, daß sie trotz allen Anstrengungen nicht auseinander gingen, auch wenn noch so fest gezogen würde, sie halten fest zusammen, zöge man an einem Ende, so wackelt das ganze Feld und auch dem Sturm halten sie stand. Nun seien auch die luth. Gemeinden schweren Religionsstürmen ausgesetzt gewesen. Nun sei auch die Reinswalder Gemeinde davon nicht verschont geblieben. Als nun Pastor Bürger 1835 nach Reinswalde kam und die Union und neue Agende eingeführt hatte, aber er wurde bald inne, daß er die Gemeinde einen falschen Weg geführt hatte, wollte er mit seiner Gemeinde wieder zu der luth. Kirche zurückkehren.

 

Dies geschah dann 1849. Zuvor gab es einen sehr harten Kirchenkampf. Zuerst aber blieben Sie alle standhaft  und hatten zusammengehalten wie ein Erbsenfeld. Die Ranken seien auch der Glaube an das Wort Gottes und an Jesum Christum. Trotzdem nun die Stürme der Zeit unsre liebe Reinswalder Gemeinde auseinandergerissen haben, und wir alle hin und her zerstreut sind, verbindet uns, daß überall die Liebe zu der luth. Kirche um der Wahrheit willen und dies eine Ziel Jesus Christus.

 

Pastor Jungermann sprach über das Wort "Gedenke der vorigen Zeiten". Er, ein Reinswalder Kind, gedachte zuerst an seine Kindheit, welche er in Reinswalde verlebt hatte und erzählte eine heitere Geschichte aus seiner Kindheit, welche sich bewiesen hat bis in die spätere Jugend, dann aber noch Erfüllung wurde.
(Anm.: Wenn er schon selbst aus seiner Kindheit in Reinswalde berichtet, dann muß er ein Sohn von Kantor und Lehrer Jungermann sein, der von 1873 - 1900 an der luth. Schule tätig war.)
Dann aber gedachte er auch der Väter in den schweren Tagen und Jahren des Kirchenkampfes. Als ihnen nun die Kirche, Schule, Pfarrhaus und auch das Kirchengut genommen wurde, kehrte etwa ein Viertel der Gemeinde in die unierte Landeskirche zurück, der größte Teil aber blieb fest. Konnten sie ja später eine neue Kirche, Pfarrhaus und Schulhäuser bauen. 1904 wurde der Turm gebaut und 3 Glocken angeschafft. An diesem Tage erklangen viele Lob und Danklieder, auch das Lied wurde gesungen, "Sie ist mir lieb die werte Magd". Ergreifend war es immer, als der Pastor dann bei den Jubiläumsfeiern das Hirtenschreiben verlas, mit welchem das Oberkirchenkollegium die Gemeinde Reinswalde 1849 begrüßt hatte. So war der Tag verklungen, aber auch mit Gottes Hilfe gut gelungen und noch lange in Erinnerung geblieben.

 

Nun hatte die Gemeinde und auch der Pastor den Wunsch ihre zwei Glocken wieder anzuschaffen, welche sie im Weltkriege hingegeben hatten. Der Pastor und die Vorsteher baten um freiwillige Gaben und es dauerte gar nicht lange, so konnten die Glocken bestellt werden. Im Mai 1925 kam der ersehnte Tag, wo die Glocken am Bahnhof Sorau abgeholt werden konnten. Welche große Freude! Am Eingang des Dorfes wurden sie feierlich empfangen und mit Girlanden geschmückt. Im festlichen Zuge ging es zur Kirche. Voran der Posaunenchor, die Schulkinder und die Jugendvereine, dem Wagen folgte ein großer Teil der Gemeinde.
(Anm.: Das Bild der feierlichen Glockenweihe ist im Sorauer Heimatblatt Sept./Okt. 1990 zu bewundern, die Berichtigung zur Bildunterschrift im Nov. 1990, S. 20)
Bei der Kirche angekommen, hielt Pastor Burgdorf eine kurze Andacht. Mit einem Lob und Danklied wurde diese Feierstunde beendet. In etlichen Tagen wurden sie unter reger Anteilnahme der Gemeinde hochgezogen. Am Sonntag Rogate, den 17. Mai wurden sie zur Ehre Gottes geweiht. Die Weihrede hielt Pastor Burgdorf. Am Nachmittag fand noch eine Nachfeier im Pfarrgarten statt. Zur Freude der Gemeinde erklangen nun wieder alle drei Glocken und riefen weit über des Dorfes Grenzen hinaus, O Land, Land höre des Herrn Wort. Nicht nur zur Freude allein erklangen sie, sondern auch die Heimgegangenen begleiteten sie auf ihrem letzten Wege, und Sonntag für Sonntag riefen sie die Gemeinde zum Gottesdienst.

 

1926 wurden noch etliche Posaunen angeschafft, so daß wieder ein vollständiger Posaunenchor bestand. An einem Sonntagvormittag Gottesdienst wurden sie eingeweiht, Nachmittag fand noch eine Nachfeier im Pfarrgarten statt.
(Anm.: Leiter des Posaunenchores der lutherischen Gemeinde war später Ernst Winkler - es gibt ein schönes Foto mit ihm und dem Posaunenchor - , er ist Vater unseres rührigen Dorfbetreuers Klaus Winkler; wer kennt die beiden Reinswalder Urgesteine nicht!)
1927 konnte der älteste Kirchenvorsteher Traugott Heinze sein 40jähriges Jubiläum als Schulvorsteher feiern. Auch konnte die Gemeinde ihr 50jähriges Kirchweihfest feiern. Im Herbst 1927 gründete Pastor Burgdorf den Frauenverein. Viele Frauen folgten dem Rufe, und der Verein zählte 60 - 70 Mitglieder, und wurde alle 14 Tage Sonntagnachmittag gehalten. Welche frohe Stunden des Beisammenseins. Konnte sich ja jede Vereinsschwester zu ihrem Geburtstag ein Lied wünschen. So erklangen oft 8 - 10 Lieder von ganz neuen und längst verklungene Weisen. Viele, welche bei Kantor Jungermann im Kirchenchor gesungen worden waren. Er ist ja auch der Gründer des Kirchenchores gewesen. Von den älteren Frauen wurde gern gesungen, Sieh mein Auge nach den Bergen, der Herr ist mein getreuer Hirt und reines Wort und Sakrament.

 

Am 26. Mai 1928 konnte Pastor Burgdorf im Kreise seiner Lieben und seiner Gemeinde seinen 50. Geburtstag feiern. Die Gemeinde und der Frauenverein ehrte ihn in einer Feierstunde und erfreute ihn mit schönen Geschenken. Im Herbst desselben Jahres feierte der Frauenverein sein einjähriges Bestehen. Dazu war der Sorauer Frauenverein geladen. Nachmittags bei Kaffee und Kuchen und Liederklang im frohen Kreise. Abend fand eine Nachfeier statt, wozu die Gemeinde eingeladen war, die Jugend führte ein Stück aus der Verfolgungszeit auf und die Frauen ließen ihre Lieder erklingen. Zu solch einer Feier fehlte immer Saal, deshalb fanden solche Feiern immer im Saale des Herrn Blobel statt. Es war ja der Wunsch des Pastors und auch der Gemeinde, solch einen Gemeindesaal zu bauen, aber es ist bei dem Wunsch geblieben.

 

Im Frühjahr 1930 war der Reinswalder Frauenverein bei dem Sorauer Verein zu Gaste geladen. 40 - 50 Frauen zu Rad und zu Auto nahmen daran teil. Stunden schöner Gemeinschaft bei Liederklang, Kaffee und Kuchen durfte der Verein bei den Sorauer Schwestern verleben, die ja auch durch Bande der Verwandtschaft weithin mit Reinswalde verknüpft waren. Etliche Jahre hindurch wurde der Frauenverein auch von einer lieben luth. Fam. im Nachbardorf zu einem frohen Sonntagnachmittag eingeladen. Die älteren Frauen fuhren mit dem geschmückten Leiterwagen und die Jüngeren mit den Rädern. Im Nachbardorf angekommen, empfingen uns die Gastgeber aufs herzlichste und bewirteten uns aufs beste. Dann gingen wir hinaus in den schönen Garten, der Pastor hielt eine Andachtstunde, daran nahmen auch andere Bewohner des Dorfes teil. Danach wurden viele geistliche Volkslieder gesungen. Bei dieser Gelegenheit wurde öfters das Reinswalder Heimatlied gesungen. "Ich bin das ganze Jahr vergnügt". In später Abendstunde kehrten wir frohen Mutes heim. Dankten Gott für diesen gesegneten Nachmittag und nahmen etwas mit in den Alltag der Woche. Auch konnten wir auf dem weiten Wege Gottes schöne Natur bewundern.

 

Auch der Schuljugend wurde alle zwei Jahre durch die Gemeinde eine Freude bereitet, das Kinderfest. Ende August oder Anfang Sept. wurde es gefeiert. Die Schul- und Kirchenvorsteher sammelten freiwillige Gaben. Dann wurde alles vorbereitet. Ein Gemeindeglied stellte einen schönen großen Platz beim Hause oder eine Wiese zur Verfügung. Alles freute sich auf den schönen Sonntag, um 1 Uhr mußten alle Kinder bei der Kirche sein. Der Festzug wurde zusammengestellt. Die Mädchen waren mit Kränzen geschmückt, die Knaben trugen Fahnen, auch Lampions fehlten nicht. Nun setzte sich der Festzug in Bewegung voran der Posaunenchor. Es ging ein Stück durchs Dorf der Festwiese zu. Die Vorsteher begleiteten den Zug und die Lehrer. Auf der Wiese angekommen wurde zuerst für das leibliche Wohl der Kinder gesorgt. Danach führten die größeren Mädchen ihre Reigen und Spiele auf, die Jungens zeigten ihr Können im Klettern und sonstige Kunststücke, was ja auch nicht unbelohnt blieb. Mit den Kleinen spielte die Lehrerin Frl. Pfaff. Auch sonst wurden nützliche Gaben an die Kinder verteilt. Zu schnell verflossen die schönen Stunden und bald nahte der Abend. Der Posaunenchor verschönte diesen Tag mit seinem Liedern. Die Kinder bekamen noch mal schönes Vesperbrot und zum Schluß Kaffee und Brötchen. Dann wurde zum Aufbruch gerüstet. Zum Schluß dankte der Pastor in seiner Ansprache allen denen, welche zum Gelingen dieses Festes beigetragen hatten. Sagte aber, der größte Dank gelte Gott dem Herrn, welcher ja der Geber aller Gaben sei und seinen Segen zu diesem Feste gegeben habe. So wurde zum Schluß gesungen "Nun danket alle Gott". Nun ging es noch einmal zur Kirche, dort sprach der Pastor ein Abendgebet, nach dem Vaterunser und dem Liede "Ich bete an die Macht der Liebe" gingen wir alle dankbar nach Hause, diese Feste haben wir heute noch in froher Erinnerung.
(Anm.: Schon Dorothee Schöne berichtet in ihren Erinnerungen über ein Kinderfest in Reinswalde: "Wenn am 2. Sept., am Sedanstag, das große Kinderfest im Dorf gefeiert wurde, auf der Wiese bei August Hübners Hof, wo eine riesenhafte alte Kastanie stand". Dieses Fest hatte also doch schon eine längere Tradition in Reinswalde; s. Sorauer Heimatblatt Juli 1997 ff.)

 

Alle Jahre zu Weihnachten hielt der Frauenverein eine kleine Feier und ladete die alten und einsamen Frauen der Gemeinde dazu ein. Es gab Kaffee und Kuchen und die Feier wurde umrahmt von der Weihnachtsgeschichte, Lieder und Gedichte, und der Pastor las schöne Geschichten vor. Die lieben Gäste wurden mit einem schönen Weihnachtspäckchen beschenkt. O, wie leuchteten da die Augen der lieben Frauen und mancher Händedruck sagte mehr denn viele Worte. Mit dem Vaterunser und einem schönen Weihnachtsliede wurde die Feier beendet. Auch der Jugendverein hielt unter sich eine Weihnachtsfeier. Mit großer Freude ging es nun dem Weihnachtsfeste entgegen.

 

In der Epiphaniaszeit wurde der Mission gedacht. Dann begann die Passionszeit, in dieser Zeit begleitetet wir unsern Heiland auf seinem Leidenswege bis zum Kreuz am Karfreitag. Jeden Mittwoch war Passionsgottesdienst. Der Karfreitag war der stille und heiligste Feiertag des ganzen Jahres. Am Sonnabend wurde noch alles vorbereitet auf Ostern, aber sonst war es stille. Aber am Ostermorgen früh um drei Uhr ertönten und jubelten alle Glocken und verkündigten die Auferstehung des Herrn. Welch feierliche Stille des Ostermorgens. Je nach der Jahreszeit zeigten sich hie und da die ersten Frühlingsblumen, frisches Grün überzog Wiesen und Felder und zeugte davon, daß auch die Natur zu neuem Leben erwache. Auch ließen die Vögelchen ihre Stimmen erklingen und verkündigten den heranbrechenden Morgen. Während des Läutens gingen viele nach alter Sitte nach Osterwasser. Um 6 Uhr erklangen dann die Lieder des Posaunenchores und Kirchenchores vom sogenannten Sängerberg unweit der Kirche zu Ehren des Auferstandenen Heilandes. Viele eilten auf den Friedhof um die Gräber ihrer Lieben zu schmücken, welche dann wie ein Blumenmeer prangten. Um 9 Uhr war Festgottesdienst mit heiligem Abendmahl. Schon im Introitus klang es uns entgegen, Der Herr ist auferstanden, ja, er ist wahrhaftig auferstanden. Nachmittags um 2 Uhr fand eine Auferstehungsfeier statt. Der Pastor ging mit der konfirmierten Jugend geschlossen ins Gotteshaus, wo sich schon ein großer Teil der Gemeinde versammelt hatte, nach einem Osterliede hielt der Pastor eine kurze Andacht. Die Jugend bekannte dann den Glauben und das Tauf- und Konfirmationsgelübde. Nun wurden die Namen derer verlesen, welche von einem Ostern bis zum andern heimgegangen waren. Zu ihrem Gedenken wurde ein stilles Gebet getan. Nach verlassen der Kirche ging es unter Posaunenklängen zum Friedhof, auch hier wurde ein Lied gesungen. Der Pastor hielt eine Andacht über ein Auferstehungswort. Nachdem die Jugend gesungen hatte Wir wollen alle fröhlich sein in dieser österlichen Zeit, war die Feier beendet, welche alle Jahre gehalten wurde.
(Anm.: Dieser Absatz, der über die Osterzeit und Ostern berichtet ist im Sorauer Heimatblatt im März 1997 erschienen - rechtzeitig zum Osterfest am 30. und 31. März.)

 

Am 3. Januar 1931 konnte Pastor Burgdorf mit seiner Ehefrau die silberne Hochzeit feiern. Sie wurden von der Gemeinde mit schönen Geschenken erfreut und auch der Frauenverein erfreute sie in einer Feierstunde. Im Sommer 1931 sollte Pastor Burgdorf auf Wunsch seines Vaters die Leitung der Samariteranstalt in Fürstenwalde übernehmen. Er folgte dem Rufe des Vaters mit schwerem Herzen, hieß es ja nun scheiden von seinen Gemeinden und Friedersdorf. Aber er ging. Nach etlichen Jahren legte er sein Amt dort nieder, da die Leitung und Aufgaben für ihn zu schwer waren. Er ging nach Rickling in Holstein und war dort als Anstaltspfarrer tätig. Etliche Male besuchte er seine Reinswalder Gemeinde und erfreute sie mit einem Predigtgottesdienst. Auch zum 10jährigen Bestehen des Frauenvereins 1937 war er mit seiner Frau geladen und auch gekommen. Dazu war auch der Sorauer Frauenverein eingeladen. Die Frauenvereine gingen geschlossen zum Gottesdienst, voran beide Pastoren. Die Festpredigt hielt Pastor Burgdorf. Am Nachmittag hatten wir ein fröhliches Beisammensein im Pfarrgarten und mit einer Abendandacht wurde dieses Fest beendet. Zwischen beiden Vereinen bestand enger Verkehr, dadurch wurde das Freundschaftsband immer mehr geknüpft. 1943 besuchte er Reinswalde noch mal, er erfreute uns noch einmal mit einem Predigtgottesdienst und Nachmittag hielt er eine Gedächtnisfeier für einen seiner einstigen Konfirmanden. 1944 ist er in Rickling im Alter von 66 Jahren heimgegangen. Er ruhe dort in Frieden und auch er darf schauen, was er geglaubt und gepredigt hat, seinen Herrn und Heiland.
(Anm.: Weitere Nachrichten und Mitteilungen über seine Familie - hier insbesondere über das Schicksal seiner Frau - sind mir bisher nicht bekannt geworden.)

 

Als nun 1931 Pastor Burgdorf Abschied nahm, mußte ein neuer Pastor gewählt werden. Von den drei Probepredigern Fuhrmann, Liepelt und Johannes Hofmann wurde der Letztere gewählt, welcher Hilfsprediger in Breslau war, hatte dort aber schon eine eigne Gemeinde. Seine Heimat war Balhorn in Hessen und stammte aus einer Bauernfamilie. Im Sept. kam er nach Reinswalde und ihm wurde ein froher Empfang bereitet. Am 25. Okt. 1931 wurde er durch Sup. Wichmann aus Freistadt als Pastor eingeführt. Pastor Burgdorf und Pastor Haertwig aus Cottbus waren zugegen. Am Nachmittag fand noch eine Nachfeier im Saale des Herrn Blobel statt. Dort erzählte er von seinen Eltern, seiner Kindheit und Jugend und schon als Kind hatte er den Wunsch, Pastor zu werden. Am 15. Nov. fand in seiner Heimat Balhorn seine Vermählung mit der Jungfrau Lieselotte Siebert, Tochter des dortigen Pastor Siebert statt. Am 17. Nov. hielten sie als junges Ehepaar ihren Einzug in Reinswalde. Große Freude und herzlicher Empfang wurde ihnen von der Gemeinde und den Vereinen bereitet. Pastorenfamilie und Gemeinde erfreuten sich des besten Zusammenlebens. Auch Frohsinn und fröhliches Beisammensein wurden in den Vereinen geübt. Gott der Herr schenkte der Pfarrfam. 4 Kinder, welche zur Freude der Eltern und Gemeinde aufwuchsen.
(Anm.: Über Pastor Johannes Hofmann und insbesondere über seine Frau Lieselotte sind im Sorauer Heimatblatt verschiedene Artikel erschienen, z. B. der Dank der Reinswalder im Februar 1985, Seite 9 und der Nachruf nach ihrem Ableben am 18.4.1991 im Juni 1991, Seite 7. Auch "Kirche aktuell" berichtet 1995 über Balhorn, Frau Seefeld, verw. Hofmann, geb. Siebert und die Ereignisse, die 1945 begannen und darüber, warum vor 50 Jahren in Balhorn und um zu ein Reinswalder Nest entstanden ist. "Unsere Frau Pastor" Hofmann hat durch ihre selbstlose Hilfsbereitschaft nach 1945 unauslöschlich in jedem Herzen der Reinswalder ihren festen Platz. Unseren Nachkommen sei daher empfohlen, gerade dieser Frau ein ehrendes Andenken zu bewahren.)

1931 legte auch der Kantor und Lehrer Johannes Hoffmann sein Amt nieder und trat in den Ruhestand. Über 40 Jahre war er an der ev.-alt-lutherischen Schule tätig. Er versah das Küsteramt in der Kirche und hielt auch Lesegottesdienst. Bis zu seinem Tode wohnte er mit seiner Frau in Reinswalde. Er starb 1944 im Dez. und ruht mit seiner Ehefrau und 3 Kindern auf dem dortigen Friedhof. Im ersten Weltkriege fiel sein ältester Sohn, welcher auch Lehrer studierte und '48 (1948) folgte ihm sein jüngster Sohn in die Ewigkeit. So sind von seinen 9 Kindern noch 4 am Leben.

 

Sein Nachfolger war der Lehrer Gustav Meerländer aus Namslau. Im Dez. 1931 hielt er seinen Einzug in Reinswalde. Die Kinder begrüßten ihn mit einem Liede, welches von einer lieben Reinswalderin gedichtet war. Auch die Gemeinde bereitete ihm eine frohen Empfang. Die Schulkinder waren ihm auch sehr zugetan. In der Kirche übernahm er dieselben Ämter wie Kantor Hoffmann. Nach '45 (1945) hat er seine Heimat in Braunschweig gefunden.
(Anm.: Über beide Lehrer ist mir einiges bekannt geworden.)

Im Februar 1932 hatte der Frauenverein den Sorauer Frauenverein zu einer frohen Nachmittagsfeier geladen. Die Feier fand im Saale des Herrn Blobel statt. Es war ein frohes Beisammensein, denn auch die Männer waren mit eingeladen. Der Verein hatte (hat) auch hier wieder sein Bestes getan, davon zeugten die festlich geschmückte Tafel mit allerhand Kuchengebäck und der duftende Kaffee. Auch war für gute Unterhaltung von den Jugend- und Frauenvereinen gesorgt. Im Sommer desselben Jahres wurde auch ein Posaunenfest gefeiert. Dazu waren auch etliche Chöre aus den anderen luth. Gemeinden gekommen.

 

Auf Anregen des Pastors und vieler Gemeindeglieder wurde 1933 beschlossen, eine Kirchenheizung anzuschaffen. Da unsre Kirche sehr hoch und im Winter sehr kalt war. Es wurden drei Koksöfen aufgestellt, dazu mußte erneuert und geändert werden. Zur Freude der Gemeinde ging alles in bester Ordnung und sie fühlte sich wohl in der geheizten Kirche bei kalter Winterzeit. Das Heizen der Öfen übernahmen etliche Brüder .....

 

(Anm.: Hier beendete ich am 23.11.2000 die Abschrift der von meinem Cousin Helmuth Merkwirth überlassene Kopie eines DIN A 5 Schreibheftes. Am 1.6.2002 bekam ich von Herrn Krause, Dortmund das Original, so daß der Text nun vervollständigt werden konnte.

..... etliche Brüder der Gemeinde. Im April 1934 konnte die Lehrerin Frl. Mathilde Pfaff auf eine 25jährige Tätigkeit an der ev.-altluth. Schule zurückblicken. …..

 

Die einige Zeilen später folgende Feier der "Goldenen Konfirmation" muß zwischen 1933 (dem Anschaffen der Kirchenheizung) und 1935 (dem Kirchenchortreffen) stattgefunden haben, denn Kopien von Klaus Winkler unterbrachen den Text ebenfalls an dieser Stelle, werden aber - mit Lücken zwischen 1933 und 1935 - fortgesetzt und sollen nun folgen! Doch noch immer war der Text unvollständig und konnte mit der goldenen Konfirmation erst am 1.2.2004 mit Hinweisen (grün und kursiv) von Klaus Winkler ergänzt werden.

..... Schule zurückblicken. Die Gemeinde ehrte sie in einer Feierstunde und überreichte ihr ein wertvolles Geschenk.

Im Sept. desselben Jahres wurde zu Ehren Luthers und der Bibelübersetzung eine 400 Jahrfeier gehalten. Die Jugend und Schulkinder nahmen geschlossen am Gottesdienst teil. Am Abend fand noch ein Abendgottesdienst Statt wobei die Kinder Sprüche und Gedichte aufsagten.
Im Jahre 1935 führte Pastor Hofmann die goldene Konfirmation ein. Er schickte an alle einstige noch lebenden Konfirmanden, welche vor 50 Jahren in der ev. altluth. Kirche zu Reinswalde konfirmiert wurden, Einladungen. Sie freuten sich alle der Einladung und kamen von nah und fern. Welch feierlicher Anblick als der Pastor mit den Einstigen jungen, jetzt aber von Sorgen und Arbeit des Alltags gebeugten Konfirmanden unter Posaunenklängen in die Kirche einzog. War auch manches Angesicht vom Leid gezeichnet, so leuchteten doch die Augen vor Freude, aber auch manches Auge wurde feucht, als der Pastor in seiner Ansprache Rückschau hielt auf die 50 Jahre ihres Lebens. Wie viel Hoffnungen lagen da entblättert zu ihren Füßen, durch wie viel Freud und Leid hatte sie der Herr geführt. Nach der Ansprache und
Verlesung der Namen aller Konfirmanden bekannten sie noch einmal ihr Konfirmations-Gelübde, welches sie vor 50 Jahren bekannt hatten, und gedachten ihres Konfirmators und Seelsorgers Pastor Schöne und Pastor Pfaff. Dann bekamen sie alle ein Gedenkblatt mit dem Kreuz und untergehender Abendsonne, darunter stand ein Bibelspruch. Danach fand ein frohes Beisammensein bei Kaffee und Kuchen in der Schule statt. Es gab dann noch mal ein freudiges Begrüßen, hatten sich ja Viele Jahrzehnte nicht mehr gesehen, und manche Jugenderinnerung wurde ausgetauscht. Diese Feier fand jedes Jahr am Sonntag Judika nachmittags statt. Im Vormittagsgottesdienst fand die Prüfung der jungen Konfirmanden statt. Palmarum war dann die Konfirmation mit heiligem Abendmahl. Am Sonntag Misericordias Domini, den sogenannten Hirtensonnntag, fand die Einführung der neuen Konfirmanden statt.

 

Am Sonntag Kantate 1935 fand in Reinswalde ein größeres Kirchenchortreffen statt. Außer einzelnen Musikfreunden vereinigten sich 5 volle Chöre zum Lobe Gottes. Konnte ja auch der Reinswalder Chor auf ein 50jähriges Bestehen zurückblicken. Die Festpredigt hielt Pastor Hofmann und nachmittags hielt Pastor Jakobskötter eine Ansprache, und die Chöre wetteiferten mit ihren Liedern.

 

1936 fand ein großes Jugendtreffen statt. Dazu waren viele Jugendvereine aus den andern ev.-lutherischen Gemeinden gekommen. Auch waren etliche Pastoren anwesend. Einer dieser Pastoren hielt die Festpredigt. Die Vereine nahmen alle in den vordersten Bänken Platz und dann die Gemeinde, so daß die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt war. Am Nachmittag versammelte sich die Jugend auf dem Sportplatz und erfreute die Gemeinde mit ihren Reigen, Spiel und Gesang. Hierbei konnte der Reinswalder Verein auf ein 40jähriges Bestehen zurückblicken.

 

Am 26 September 1937 feierte die Gemeinde ihr 60jähriges Kirchweihfest
und zugleich das 90jährige Gemeindejubiläum.
(Anm.: Hier irrt Martha Lehmann; das 90jährige Gemeindejubiläum fand erst 2 Jahre später statt, da sich die Gemeinde am 28.1.1849 den Alt-Lutheranern anschließt. Folgendes bezieht sich wohl auf das Gemeindejubiläum, denn beim Kirchweihfest waren die Pastoren Nagel, Tänzer und Liepelt anwesend.)
Die Kirche war mit frischem Grün, Blumen und Girlanden geschmückt, und Gäste waren gekommen von nah und fern. Die Festpredigt hielt Pastor Günter, Weigersdorf. Zu seinem Text hatte er gewählt, die Anfänge der drei Strophen von dem Liede "Bis hierher hat mich Gott gebracht", "Hab Lob und Ehre, Preis und Dank", "Hilf fernerweit, mein treuster Hort". Auch dieser Tag war ein Freudentag für die Gemeinde. Mit Freuden und mit dankbaren Herzen konnte die Gemeinde bekennen, ja bis hierher hat uns Gott gebracht durch seine große Güte. Denn wenn sie Rückschau hielt auf die 90 Jahre, wieviel Barmherzigkeit und Gnadenerweisungen Gottes hat sie erfahren dürfen. Er hat sie auch weiterhin geleitet. Nachmittags war noch mal eine Nachfeier und Montagsvormittags war noch mal Gottesdienst. Auch dieses Fest wurde verschönert von den Klängen und Gesängen des Posaunen- und Kirchenchors.

 

1938 von Neujahr bis Epiphanias wurde eine Jugendfreizeit gehalten. Viele Jugendliche aus den benachbarten ev.-luth. Gemeinden waren dazu gekommen. Auch etliche Pastoren waren anwesend. Zuerst Pastor Hofmann als Ortspastor, ferner Pastor Liepelt aus Sorau, Pastor Seefeld, Cottbus und Pastor Tänzer, Rothenburg a. O. Am Epiphaniasfest ging die gesamte Jugend, welche an der Freizeit teilgenommen hatten, zum Tisch des Herrn.

 

Auch der Frauenverein erfreute sich etliche Jahre hintereinander eines schönen Ausfluges. Der erste Ausflug war 1937 nach Guben, nach einer Morgenandacht wurde der Omnibus bestiegen. In Guben angekommen gingen sie zuerst in Naemi-Wilke-Stift und lernten es kennen. Es lag ein großes Arbeitsfeld vor ihnen. Auch wenn viel Liebe, Barmherzigkeit und Segen den Kranken, Hilflosen und Alten zuteil wurde.

 

1938 wurde ein Ausflug nach Grünberg gemacht, auch dieses Mal wurde eine Morgenandacht gehalten. Nun fuhren wir durch Gottes schöner Natur, Grünberg entgegen. Als wir dort ankamen, haben wir zuerst die Kirche und Gemeindesaal besichtigt und staunend sagten wir, ja solch einen schönen Saal brauchten wir auch. In der Kirche spielte unser lieber Pastor den Choral "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln", welche ihn vom Kirchenchor her kannten sangen mit, welch stille Andachtstunde. Dann besuchten wir die schönen Weinberge. Unser lieber Malermeister Bergmann, welcher in Grünberg bekannt war, hatte für eine gute Mittagstafel gesorgt.

(Anm.: Im Sommer 1913 zu Beginn dieser Erinnerungen wird Malermeister Julius Bergmann schon einmal erwähnt.)

Am Nachmittag gingen wir ins Luisental, dort verlebten wir mit dem Grünberger Frauenverein etliche frohe Stunden und erquickten uns an Kaffee und Kuchen. Auch der fröhliche Gesang fehlte nicht. Dankbar und frohen Mutes kehrten wir wieder heim.

 

Unseren (3ten) dritten Ausflug haben wir nach Görlitz gemacht am 15. Mai 1939. Wie die beiden Jahre zuvor, so wurde auch dieser Ausflug mit einer Morgenandacht begonnen. Als wir den Omnibus bestiegen, regnete es und der Regen hat uns begleitet bis nach Görlitz. Je trüber es draußen war, desto fröhlicher erklangen die Lieder im Omnibus. In Görlitz angekommen, bestiegen wir zuerst die Landeskrone, der Himmel war noch mit Wolken verhangen und die Aussicht in Nebel gehüllt. Als wir so von oben herab sahen, war es gerade als ob wir in ein wogendes Meer schauten. Oben angekommen, war gleich Fröhlichkeit am Platze und einer Vereinsschwester, welche ihren 50. Geburtstag hatte, sangen wir das Lied, "So nimm denn meine Hände". Auch wurden etliche schöne Geschenke mit nach Hause genommen. Mittagsrast hielten wir im Haus Rüdiger am Wilhelmsplatz, heute Karl-Marx-Platz. Nachmittag machten wir einen Rundgang durch die Ruhmeshalle. Staunten, was für wertvolle Schätze sie barg und manche Erinnerung wurde wach an längst vergangene Tage. Dann besuchten wir die Neißeinsel und hielten dort eine Kaffeepause. Mit einem Mal drang doch noch die Sonne durch die dicken Nebelwolken. Zuletzt sahen wir uns die luth. Kirche an. Bei der Kirche angekommen, welche von Außen wie eine Burg aussah, begrüßte uns Pastor Priegel und sein Sohn. Sie führten uns ins Innere der Kirche und wir staunten, wie schön groß und geräumig sie war. Pastor Priegel erklärte uns, woher Verschiedenes stammte, besonders der Altar und die Orgel. Dann nahmen wir Abschied, und unser lieber Pastor war froh, daß wir alle glücklich über die verkehrsreiche Straße hinübergekommen waren. Dankbar und froh ging es wieder der Heimat zu.

 

Im Sommer 1940 und 1941 feierten die Jugendvereine ein frohes Beisammensein im Pfarrgarten, auch die Gemeinde nahm daran teil. Sie erfreuten die Gemeinde mit ihren Liedern und führten etliche Stücke auf aus der Missionsarbeit und aus der Verfolgungszeit. So hat Gott der Herr der Gemeinde viele Fest- und Freudenstunden beschert. Hieß es ja auch immer wieder: Reinswalde ist eine feiernde und singende Gemeinde. Auch das Leid hat nicht gefehlt, aber beides kommt vom Herrn. Als am 2. Sept. 1939 der zweite Weltkrieg ausbrach, zuerst gegen Polen, wurden viele Brüder der Gemeinde und des Dorfes zu der Wehrmacht eingezogen. Jeder Abschied war bitter und schwer. Obwohl dieser Krieg nur 18 Tage gedauert hat, hatte er doch aus unsrer Gemeinde ein Opfer gefordert. Die Gemeinde stand trauernd an der Seite der Familie, da sie ja schon im ersten Weltkriege schwer geprüft war. Jeder glaubte, der Krieg sei am Ende, aber der ersehnte Friede kam nicht.
(Anm.: Gerhard Kurz wurde 1939 zum Polenfeldzug einberufen und ist als erster und einziger Reinswalder 1939 in Polen gefallen; ¥ Martha geb. Gärtner, * 17.12.1910, † Berlin 1970 an schwerer Krankheit. Geschwister von Martha: Marie Winkler, Gerhard Gärtner, Anna Jurke)

 

Im Juli 1940 ging ein schweres Gewitter über unser Dorf nieder, ein Blitzschlag traf unser Gotteshaus. Durch das schnelle Handeln unsers Pastors und Eingreifen der Feuerwehr wurde dem Feuer Einhalt geboten und Gott der Herr bewahrte die Kirche und die Gemeinde vor einem großen Unglück.

 

Man hoffte immer noch auf Verständigung der Völker, aber die Kriegsfackel entbrannte aufs Neue, nun tobte der Krieg von Jahr zu Jahr, so daß er unzähliges Leid über unser Dorf, ja über unser ganz Vaterland gebracht hat. Immer mehr wurden zur Wehrmacht eingezogen und mußten hinausziehen, und jede Familie bangte um ihre Lieben. Von Herbst 1941 ab kam immer eine Trauerbotschaft nach der andern oder eine Anzeige: vermißt. In zwei Trauernachrichten wurde der Spruch wahr, .....

 

(Anm.: An dieser Stelle wird der Text erneut unterbrechen, leider ließ sich nicht feststellen, ob nur Blatt fehlt.)

 

….. Es war der einzige Sohn seiner Mutter und sie war eine Witwe. Auch in der Heimat wurden etliche in der Blüte ihres Lebens dahingerafft, so daß eine Lücke nach der andern gerissen wurde. Unser lieber Pastor tröstete die Hinterbliebenen mit Gottes Wort in rührender liebevoller Weise, bis auch für ihn die bittre Stunde schlug, und er im März 1943 zur Wehrmacht einberufen wurde. Ehe er ging, hielt er noch die Konfirmation. Zu dieser Feier hatte er den Text gewählt, wie Jesus einst zu seinen Jüngern sprach: Wollt ihr auch weggehen? Petrus sprach: Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Und wir haben geglaubt und erkannt, daß du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Er sprach: "Dreierlei bewegt mich dazu, diesen Text gewählt zu haben. Zwölf Jünger standen vor dem Herrn. Auch Ihr seid zwölf Konfirmanden, die Ihr vor mir steht, um Eurem Herrn und Heiland die Treue zu geloben, haltet sie ihm. Haltet auch euer Gelübde, treu zu bleiben unser lieben luth. Kirche. Auch seid ihr der zwölfte Jahrgang, welche ich an dieser Stätte konfirmiert habe. Wie nun der Heiland Abschied genommen hat, so nehme ich nun Abschied von meiner lieben Familie, von Euch ihr lieben Konfirmanden, und von Euch, ihr lieben beiden Gemeinden. Zwölf Jahre durfte ich Euch dienen mit Gottes Wort und Sakrament. Habe Euch alle in mein Herz geschlossen und meine Liebe geschenkt. Bleibt Euren Kindern ein Vorbild, daß ich einst mit Freuden bekennen kann: Ich habe derer keines verloren, die Du mir gegeben hast." Tiefe Trauer bewegte unser aller Herzen, als unser lieber Pastor von uns ging. Wenn auch hin und wieder ein Pastor kam und Predigtgottesdienst und heiliges Abendmahl hielt, auch die Kindlein in der heiligen Taufe dem Heiland brachte, so waren wir doch wie Schafe, die keinen Hirten hatten. Nur einmal war es unserm lieben Pastor vergönnt, in Urlaub zu kommen, ehe er an die Front kam.
Zu aller unsrer Freude hielt er Weihnachten, Silvester 43 und Neujahr 44 Predigtgottesdienst und heiliges Abendmahl. Sein Neujahrstext lautete: So der Herr will und wir leben. So weilte er noch mal unter uns auch im Frauenkreis. Am 22. Februar 1944 wurde er auf die Krim nach Rußland abgestellt. Er ging schweren Herzens, vielleicht hat ihn schon ein himmlisches Ahnen erfüllt, stellte aber sein ganzes Vertrauen auf Gott und beugte sich unter seinen Willen. Ende Mai erreichte uns schon die traurige Nachricht, unser lieber Pastor soll schwer verwundet sein und vermißt. Noch hatten wir Hoffnung, unser lieber Pastor kommt vielleicht wieder. Aber nach 5 Jahre bangen Wartens ist die Hoffnung zunichte geworden, als am 1. Osterfeiertag 1949 seine Familie die amtliche Nachricht bekam, Er sei am 9. Mai 1944 ½ 9 Uhr in Sewastopol schwer verwundet, kam auf den Hauptverbandsplatz Maxim Gorki II, wo ihn Gott am gleichen Tage in sein himmlisches Reich holte, zuvor hat er noch mit seiner letzten Kraft seine Kameraden mit Gottes Wort getröstet und gestärkt und sie hingewiesen auf Jesum, welcher auch für sie gestorben ist. Er ruht dort auf dem Friedhof. Er darf nun schauen, was er geglaubt und gepredigt hat: Seinen Herrn und Heiland und mit ihm 41 seiner Konfirmanden. So sind alle 8 Pastoren, welche mit Gottes Hilfe den Gemeinden Reinswalde und später auch Friedersdorf von 1849 - 1944 treue Hirten und Seelsorger waren und in Liebe und Treue gedient haben, eingegangen in die ewige Heimat und das ewige Licht leuchte ihnen. Möge an Ihnen das Wort wahr werden: Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude. (Matth. 25 Vers 21). Auch in diesem Weltkriege mußte die Gemeinde wieder zwei Glocken hingeben.

 

Am 21. Mai 1944 weilte die Gemeinde am Grabe ihres frühren Hirten und Seelsorgers Superindent Pfaff und gedachten seines 100. Geburtstages. Viele Blumen und ein Kranz seiner dankbaren Gemeinde schmückten sein Grab. Die Andacht hielt der älteste Kirchenvorsteher August Hübner über das Wort des Herrn, welches er einst zu Abraham gesagt hat: Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein (1. Mose 12, 2). Er sprach: "Unser lieber Seelsorger ist vom Herrn gesegnet worden bis ins hohe Alter, und im Segen hat er 26 Jahre unter uns gewirkt und haben viel Segen von ihm erfahren". Durch seine jüngste Tochter ist er der Gemeinde zum Segen geworden, welche von 1909 bis dahin als zweite Lehrerin an unsrer Schule tätig war. Denn mit viel Liebe und Geduld hat sie alle Jahre immer wieder die Kleinen der Gemeinde in ihre Obhut genommen und ihnen das gelehrt, was sie in den ersten Jahren ihrer Schulzeit fassen konnten.
(Anm.: Als zweite Lehrkraft tritt am 1. Januar 1909 Mathilde Pfaff (jüngste Tochter von Pfarrer Pfaff) ihr Amt in der luth. Schule in Reinswalde an. Sie löst Dorothee Schöne ab, die ab April 1907 zweite Lehrerin war und bleibt bis zum bitteren Ende im Jahr 1945.
Im April 1934 feierte sie ihr 25jähriges Jubiläum (s. da). Dorothee Schöne erinnert sich an ihre Kindheit 1885 - 1892 und die Zeit als Lehrerin in Reinswalde im Sorauer Heimatblatt ab August 1997.)


Nun kam das bittere Jahr 45 (= 1945). Immer näher kam der Feind, immer deutlicher war der Kanonendonner zu hören, Flüchtlingszüge durchzogen unser Dorf. Ein banges Ahnen, werden wir die Heimat auch noch verlassen müssen. Doch zubald erfüllte sich dieses Ahnen. Sonntag, den 11. Februar ging alles ahnungslos zur Kirche. Mitten im Lesen der Predigt kam die Kunde, der Feind steht am Bober. Der Gottesdienst wurde mit dem Gebet des Herrn beendet und alles eilte nach Hause. Schrecken stand auf jedem Angesicht geschrieben. Viele verließen die Heimat und gingen auf die Flucht. Ein Teil blieb daheim und haben das Schreckliche durchkostet, was die Kampftage mit sich brachten. Viele liebe Menschen waren zu beklagen, welche in den Kampftagen umgekommen oder auch gestorben sind. Auch auf der Flucht sind viele umgekommen. Viele Brüder wurden mit in die Gefangenschaft genommen, von denen sind etliche nicht mehr zurückgekehrt. Der Kampf tobte in unserem Dorf etliche Tage hin und her und viele Häuser und Scheunen wurden ein Raub der Flammen. Wie durch ein Wunder Gottes sind Kirchen, Türme, Pfarrhäuser und Schulen, waren auch beschädigt, doch erhalten geblieben. Die Schäden wurden im Frühjahr ausgebessert.
(Anm.: Aber wohl nicht alle, denn der Turm der luth. Kirche hat auch einen Treffer bekommen. Deutlich ist noch heute der Durchschuß im Turmgebälk zu sehen und wie das Foto zeigt, fehlt da einiges. Eine Reparatur erfolgte aber bisher nicht.)

 

Aus unserm lieben Gotteshause sollte ein Lagerraum gemacht werden, ein Teil der Bänke war schon herausgerissen, aber dann wurde es verboten. Es wurde alles wieder in Ordnung gebracht und wir konnten Lesegottesdienst drin halten. Heute wird Gottesdienst in fremder Sprache darin gehalten. Zweimal kam aus Sorau ein ev. Pastor und hielt Predigtgottesdienst auch hl. Abendmahl in der ev. Kirche. Dann kam die freudige Nachricht, Kirchenrat Kiunke kommt nach Reinswalde und will bei uns bleiben. Wie war die Freude groß, wieder einen luth. Pastor in unsrer Mitte zu haben. Alles wurde zum Empfang vorbereitet. Am 22. Juni traf er mit seiner Familie in Reinswalde ein. Am 24. sollte Predigtgottesdienst mit Feier des hl. Abendmahls stattfinden. Wie freuten und sehnten wir Lutherischen uns danach und alles bereitete sich vor. Die Freude war zu groß und sie sollte uns wieder genommen werden, als am 23. Juni früh der Befehl der P. M. (Anm.: wohl: Polnische Miliz) kam, alles raus aus dem Dorf, nicht wissend wohin.
(Anm.: Dieser 23. Juni 1945 war auch für andere Dörfer eine böse Katastrophe. So beschreibt Richard Gutt in seinen Aufzeichnungen - "Vertreibung aus Gladisgorpe. Erinnerungen eines schlesischen Lektors" - ausführlich nicht nur diesen Zeitraum, sondern auch, was davor und danach alles so den Gladisgorpern widerfuhr. Einiges ist auch über Reinswalde zu lesen, u. a. auch über das Los der Familie Sandmann und anderes mehr.)
In Eile wurde etwas zusammengerafft und Heimat und alles zurückgelassen, mancher noch ein Gebet auf den Lippen und in Gedanken, ob wir die Heimat noch einmal wiedersehen. Nach mühevoller tagelanger Wanderung kamen wir über die Neiße, manchem wurde das bißchen Habe, was er noch hatte, entrissen. Nach vielem Hin- und Herwandern, kehrten einige nach etlichen Wochen wieder zurück in die Heimat, aber eine Heimat fanden wir nicht mehr, nur fremde Menschen. Durch die vielen Strapazen und Entbehrungen starben viele liebe Menschen. Welche zurückkehrt waren, wurden 46 und 47 (= 1946 und 1947) zum zweiten Mal ausgewiesen und unsre Heimat ist in fremden Händen.
(Anm.: Auch über diesen Zeitraum lesen wir ausführlich bei Richard Gutt in seinen Aufzeichnungen - "Vertreibung aus Gladisgorpe. Erinnerungen eines schlesischen Lektors". Im Gegensatz zu Reinswalde hat er aber eine ganze Reihe von Bewohnern namentlich genannt, die nach Juni 1945 noch einmal in ihr Heimatdorf nach Gladisgorpe zurückkehrten.)
Bis jetzt sind aus Reinswalde und mit den auswärtigen Kirchenmitgliedern 265 heimgegangen. Im stillen Gedenken!

                            Mein Gott, ich weiß nicht, wo ich sterbe
                            und welcher Sand mein Grab bedeckt;
                            doch wenn ich dieses nur ererbe,
                            daß deine Hand mich auferweckt,
                            so nehm ich leicht ein Räumlein ein;
                            die Erd ist allenthalben dein.
                            Amen.

Gefallen sind in diesem Weltenringen aus Reinswalde und den auswärtigen Gliedern unsrer Gemeinde 46. Zu ihrem Gedenken wollen wir still die Hände falten und beten:

                            Engel schweben um ihr Grab
                            und Ihnen lacht der Himmelfriede,
                            all die Tränen trocknet ab,
                            wir sind auch nur Gäst hienieden,
                            schaun empor zu jenen Höhn,
                            wo wir einst sie wiedersehn.

Von den vielen Vermißten sind etliche zu ihren Lieben zurückgekehrt. Von einigen ist die Nachricht gekommen, daß sie gefallen sind. Das Schicksal der Anderen ist noch in Dunkelheit gehüllt. Ob sie noch leben und noch in Gefangenschaft oder schon längst daheim sind beim Herrn, wir wissen es nicht, Gott weiß es, welche heimgegangen und daheim beim Herrn sind. Auch hier wollen wir stille werden und beten:

                            Sie waren gefangen, nun sind sie frei.
                            Sind sie einsam gestorben, Gott stand ihnen bei!
                            Ist auch verborgen ihr einsames Grab,
                            sie ruhen auch dort in des Herren Hand.
                            Wenn auch oft bricht das blutende Herz,
                            nur Gott vertrauen, verzaget nicht,
                            einst wird es doch offenbar,
                            daß dennoch gnädig sein Ratschluß war.
                            Was sind die Leiden dieser Zeit,
                            sie sind nicht wert der Herrlichkeit,
                            des Eigen sie waren, des Eigen sie sind
                            und einst wird erwecken sie Jesus Christ.
                            Dann werden sie nach Kampf und Streit
                            gekrönt mit der Krone des Lebens in Ewigkeit.
                            Dort in jenen sel'gen Gründen
                            werden wir sie wiederfinden.

 

Dies ist ein Rückblick in unsre Reinswalder Heimatkirchengemeinde und Heimat. Wenn auch viele ihre Heimatkirche und eine neue Heimat gefunden haben, so wird doch in vielen die Sehnsucht wach:

                        Noch einmal möcht ich wandernd durch meine Heimat gehn,
                        und ihre Städt und Dörfer und Wald und Felder sehn.
                        Noch einmal möcht ich stehen an meiner Lieben Grab,
                        und Gottes reichsten Segen vom Himmel flehn herab.
                        Möcht hören das Geläute vom Heimatgotteshaus,
                        und sehe mich im Geiste dort gehen ein und aus.
                        Noch einmal möcht ich wandernd durch meine Heimat gehn,
                        und ihre Städt und Dörfer und Wald und Felder sehn.

(Anm.: Hier beendet Martha Lehmann, geb. Grätz den Bericht über das Leben der luth. Gemeinde Reinswalde. Sie ergänzt nun ihre Erinnerungen aus Reinswalde im folgenden Abschnitt mit …..)

Von Natur- und sonstigen Ereignissen, welche sich sonst noch zugetragen haben, sei hierbei noch folgendes erwähnt.

Nachdem 1904 ein sehr trockenes und dürres Jahr war,
war 1905 ein sehr nasses und gewitterreiches Jahr. Etliche Gewitter waren mit heftigen Stürmen begleitet und entwurzelten starke Bäume, auch Hagel ging nieder und vernichtete ein Teil der Ernte. Als eines Tages ein schweres Gewitter mit wolkenbruchartigen Regen niederging, traf ein Blitz das Wohnhaus des Schmiedemeisters August Bergmann und brannte nieder.
(Anm.: August Bergmann, Schmiedemeister in Reinswalde, liefert 1904 die schweren Anker zur Befestigung des Mauerwerks beim Turmbau der lutherischen Kirche. Schmiedemeister Benno Bergmann ist wohl sein Sohn, dieser war mit Anna, geb. Märkisch verheiratet. Beider Sohn Gerhard Bergmann war ebenfalls Schmiedemeister und mit Frieda Märkisch verheiratet. Gerhard ist am 25.1.1917 in Reinswalde geboren und wohnt heute in 03050 Cottbus, Bautzener Str. 40. Alle wohnten in Reinswalde, Dorfstraße 161).
Ein Kugelblitz zerschmetterte im Oberdorf eine Eiche und sprang auf das Wohnhaus des Landwirts Hermann Heinze über, das Feuer konnte wie durch ein Wunder gelöscht werden.
(Anm.: In Frage kommt nur Bauer Julius Heinze. Der Hof liegt an der Dorfstr. 11 und ist einziges "Heinze-Anwesen im Oberdorf".
1938 werden im Adressbuch des Landkreises Sorau drei Hermann Heinze genannt. Zwei wohnen im Niederdorf, einer als "Altenteiler" Dorfstraße 86 bei seinem Sohn, dem Bauern Gotthelf Heinze und der andere als Handweber und Landwirt in der Dorfstraße 88. Der dritte ist Landwirt und wohnt Ausbauten 12.)

Bei einem anderen Gewitter schlug der Blitz in das Wohnhaus des Landwirts Karl Kothe und brannte nieder.
Anfang Juli brannte das Wohnhaus und Stallung der Witwe Rosina Wolf im Oberdorf nieder, wobei die Heuernte vernichtet wurde.

 

1911 war wieder ein sehr trockenes Jahr, so daß wieder Futtermangel eintrat.

 

Ehe 1914 der Weltkrieg ausbrach, verunglückten zwei junge Menschen in Ausübung ihres Berufes tödlich, der Kutscher Paul Schulze und der Bahnarbeiter August Nitschke.

 

1916 brannte die Scheune des Landwirts Hermann Wolf im Niederdorf nieder. Der Besitzer gehörte zwar nicht zu unsrer Gemeinde, aber die Ehefrau.

 

Mitte Juli 1918 brannte früh das Wohnhaus der Gärtnerei Leitloff
(Anm.: Richard Leitloff wird im Adressbuch 1938 erwähnt und wohnt Dorfstraße 78; er war 1902 geboren und 16 Jahre alt, als sein Elternhaus abbrannte, ¥ Martha Wolf (Gasswolf); Kinder: Richard, * 1936; Klaus, * 1938)
und am Nachmittag desselben Tages die Scheune des Landwirts Ernst Gärtner durch Blitzschlag nieder.
(Anm.: Ernst Gärtner, * Reinswalde 12.10.1875, † 1919 an den Folgen des 1. Weltkrieges, (So. d. Restgutbesitzer Friedrich Erdmann Gärtner ¥ Johanna Dorotha Wolf); ¥ 15.1.1901 Berta Otte, * Reinswalde 29.8.1877, † Cottbus 1945-46, (To. d. Gärtners August Otte ¥ Ernestine Weinert); wohnte im Oberdorf Dorfstraße 177;
Kinder: Marie
¥ Ernst Winkler; Martha ¥ Gerhard Kurz; Gerhard ¥ 1.  † Frieda Schober, ¥ 2. Elli Hoffman; Anna ¥ Martin Jurke.
Berta Gärtner wird 1938 noch als Witwe im Adressbuch verzeichnet. Über ihre Eltern (also unsere Urgroßeltern) sind Klaus Winkler und ich miteinander verwandt, denn meine Oma Martha Pauline und seine Großmutter Berta waren Geschwister.

 

Am Pfingstsonnabend 1922 brannte das Wohnhaus des Bauern August Berthold nieder.
(Anm.: Der folgende August Berthold wird als Rentner 1938 im Adressbuch genannt. Er wurde Wächterberthold genannt, war Totengräber und wohnte Dorfstraße 110; sein Sohn Herrmann ¥ Martha Schulz hatte 4 Kinder (zweimal Zwillinge): Emma und Anna, Paul und Gustav; die Familie wohnte Ausbauten 9.)

 

Am Sonntag Exaudi 1925 ging ein schweres Hagelwetter über unser Dorf und vernichtete einen Teil der Ernte.

 

Durch schwere Regenfälle wurden unser sonst so stiller Dorfbach und die Nebenbäche zu reißenden Strömen im Juni 1926 und Sept. 1930 und überflutete die niedergelegenen Wiesen und Felder und die Straßen.

(Anm.: Ich kann es mir nicht vorstellen, was unser kleiner Bach "Schlatnitz" anzurichten vermag, weil ich es selbst nicht erlebt habe. Denn das traut man diesem Rinnsal "Bache" nun wirklich nicht zu. Die obigen Erinnerungen, weitere Erzählungen zu diesem Thema und die Lage des Ortes Reinswalde und der Verlauf des Baches erklären schon, daß manche brenzlige Situation zu überstehen war.)

 

Im August 1931 verunglückte der Maurer Traugott Kalisch [103] auf der Baustelle in Sorau tödlich.
(Anm.: Dieses Unglück geschah bei Ausschachtungsarbeiten in Sorau. Im Adressbuch von 1938 wird die Witwe Hedwig Kalisch, wohnhaft Ausbauten 15, am Feldweg bei Gärtners im Oberdorf erwähnt. Kinder des Ehepaares: Grete, Heinrich und Ernst.)
1933 in der Heuernte verunglückte der Landwirt August Wolf [265] tödlich. Beide waren Familienväter und hinterließen die trauernden Witwen mit ihren Kindern.
(Anm.: Der tödliche Unfall geschah mit dem Heuwender. Seine Witwe, die Bäuerin Anna Wolf, wird im Adressbuch von 1938 in der Dorfstraße 114 genannt. Anna lebte nach dem Krieg lange Zeit in Lachen bei Memmingen. Kinder des Ehepaares: Herbert, Paul, Sohn. Alle drei Buben im Krieg verloren.)

In einem dieser Jahre brannte auch das Besitztum der Fam. Wonneberger in Wellersdorf, welche auch zu unsrer Gemeinde gehörten, durch Blitzschlag nieder.

 

Im Oktober 1935 brannte durch Kurzschluß die Scheune des Bauern August Wundke im Oberdorf nieder, wobei die gesamte Ernte und wertvolle Maschinen vernichtet wurden.
(Anm.: August Wundke, * Reinswalde 15.05.1895, † 12.04.1964, ¥ Lina Henschke, * Reinswalde 26.10.1902, wohnten Dorfstraße 4, fast am Ende im Oberdorf. Sie wohnt jetzt in 14913 Jüterbog, Promenade 13, bei Tochter Anneliese, weitere Kinder: Gotthard, Anni, Martin, Elsa und Reinhard; Reinhard ist am 12.09.1994 gestorben. Eltern von August: August Wundke und Auguste NN; Eltern von Lina: Ernst Henschke ¥ Emilie Blobel.)
NN ist die lateinische Abkürzung für "nomen nescio" und heißt: "Name unbekannt" oder "nomen nominandum" und bedeutet: "der Name ist noch zu nennen"; eine häufig gebrauchte Kurzfassung auch für die Familienforschung, wenn ein Teil des Namens fehlt.

 

In den Vormittagsstunden des 22. Sept. 1939 brannte das Wohnhaus mit Scheune des Landwirts Hermann Schneider durch unaufklärliche Weise nieder.
(Anm.: Herrmann Schneider, * 1870, wohnte Dorfstraße 9 im Oberdorf, Kinder: Max und Martha und Elly, Zwillinge und Willi gefallen.
Diese Angaben aus dem von Klaus Winkler erstellten Dorf-Archiv sind etwas unklar. Ob der folgende Max Schneider mit dem o. a. Max identisch ist, muß noch überprüft werden.
Max Schneider, Landwirt und Händler, wohnte Dorfstraße 164, war zweimal verheiratet mit NN; Kinder: Sohn Willi, * 1922, gefallen; Tochter Elly; später noch einmal Zwillinge, 2 Mädchen:)


1940 und 1941 war durch die schnelle Schneeschmelze wieder Hochwasser entstanden, so daß die niedergelegenen Ortschaften ihr Vieh und Verschiedenes in Sicherheit bringen mußten.

 

1942 vor Pfingsten ging in den hinteren Wiesen des Rittergutes Fischer ein Wolkenbruch nieder, so daß in wenigen Min. auch die rechte Seite unseres Dorfes unter Wasser stand und die Frühjahrsarbeit mancher Landwirte vernichtet war.
(Anm.: Das Rittergut Fischer lag in Waltersdorf. Im Adressbuch von 1938 heißt es: "Fischer, Franz, Landwirt, Gut, 4, ( Sorau 2135"; Fischer betreute zeitweilig auch die Register des Standesamts Reinswalde.)

 

Als am 11. April 1944, am dritten Osterfeiertag, feindliche Flugzeuge über Sorau Bomben abwarfen, fanden auch aus unsrer Gemeinde 2 junge Menschen den Tod. Der Malerlehrling Günter Pfitzmann, welcher erst Palmarum konfirmiert war, und die Hausgehilfin Dora Heinze.
(Anm.: Der Bombenangriff auf Sorau war am 11. April 1944 (= Osterdienstag), hier hat sich Marta Lehmann geirrt, denn sie notierte 13. April.
Max Pfitzmann,
¥ Martha geb. Drechsler, * 1905, † ...; wohnten Dorfstraße 7;
Kinder
: Günter, beim Bombenangriff in Sorau umgekommen; Klaus und Hubert s. u.;
Hubert Pfitzmann, * Reinswalde 11.1.1940, (So. d. Max Pfitzmann
¥ Martha Drechsler); wohnte Dorfstr. 7; Wohnort jetzt: 03099 Milkersdorf, Dorfstraße 32;
Über Dora Heinze sind im Dorf-Archiv von Klaus Winkler folgende Angaben zu finden: Gotthold Werner, [258],
¥ Frieda Sinske, verw. Heinze; aus ¥ 1. von Frieda Sinske, verw. Heinze, stammt Dorothea (Dorchen) Heinze, * 19.2.1922, † Sorau 11.April 1944 (beim großen Bombenangriff auf Sorau umgekommen; siehe auch Nachdruck der Traueranzeige im Sorauer Heimatblatt Nr. 4 April 1993, Seite 7 - " ... unsere treue Helferin: ... Dorothea Heinze geb. 19.2.22 ...")

 

Geschrieben von Marta Lehmann
geb. Grätz
gewohnt in Reinswalde
zur Miete bei Gärtner Gerhard

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Unser kleiner (neuer) Friedhof in Reinswalde

Bericht von der Einweihungs-Zeremonie am 1. Juni 2012
von Klaus Winkler, Kaufungen

 

24 das Ganze.jpg
Eine würdige Gedenkstätte für unsere Verstorbenen

 

01 Vorgespräch 1.jpgSchon seit Jahren bestand der Wunsch, die alten Gräber unserer Vorfahren würdig zu bewahren. Immer wieder wurde auch, schon damals mit Pfarrer Tomkowski, darüber gesprochen, doch es ist nie etwas daraus geworden. Auch bei meinem Besuch im Sommer 2010 hatten wir über diese Maßnahme gesprochen.




v. li.: Klaus Winkler, Bürgermeister Albin Kuczak, Edmund Kantyka und der künftige Bürgermeister Kazimiery Ostrowski besprechen die Pläne

 

Nun hat Reinswalde einen neuen Bürgermeister und einen neuen Pfarrer; wem wir diese kleine Gedächtnisstätte nun zu verdanken haben ist mir unbekannt. Fest steht: Es ist eine würdige kleine Erinnerungsstätte geworden. Am 1. Juni 2012 haben wir den kleinen Reinswalder Friedhof, bzw. seine Erinnerungsstätte, mit einer kurzen Ansprache und einem Gebet, unter Beteiligung der polnischen Verantwortlichen geweiht.

 

02 Vorgespräch 2.jpgWir waren zum 31. Mai bei Edmund angemeldet und kamen, nach einer sehr guten Fahrt, auch noch zur rechten Zeit gegen 18 Uhr dort an. Wir, das sind Helma und Klaus Winkler. Der genaue Zeitpunkt für die kleine Feierstunde mußte noch mit dem Pfarrer und dem Bürgermeister verabredet werden. Da war Edmund sehr hilfreich. Wir störten Herrn Ostrowski bei seiner Aufsicht über eine übliche Feuerwehrübung, aber er ging mit uns auf den Friedhof und hier wurde alles besprochen. Der für den ganzen Friedhof verantwortliche Mann war auch gleich dabei. Er wohnt allerdings gleich vor dem Friedhofstor, im ehemaligen Haus von Hänsel Hermann. Ein Gespräch mit Pfarrer Semkło ergab, daß wir uns alle am Freitag, den 1. Juni um 15.30 Uhr auf dem Friedhof treffen.

Natürlich sind wir, Irena, die Frau von Edmund, der Edmund, Helma und Klaus Winkler schon vorzeitig da und bereiten die Feierstunde ein bißchen vor, Irena hat noch zwei Friedhofskerzen gekauft und angezündet. Als wir dort hinkamen, war bereits ein sehr schöner Pfingstrosenstrauß mit einer Vase dort abgestellt, wir vermuten vom Nachbarn, dem Friedhofswärter. Die Männer haben zur Ablage der Blumen usw. extra eine kleine Steinplatte aufgestellt. Den Pfingstrosenstrauß stellen wir aber runter, wir brauchen den Platz für unsere mitgebrachte Blumenschale mit den bedruckten Schleifen.

 

 

25 Ausschnitt Schale mit Schleife.jpg03 Irena 1.jpgDer Text auf den Schleifen:
Im Gedenken an unsere Vorfahren und in Dankbarkeit gegenüber dem Bürger in Złotnik.
W pamieci nasi Przodkowie I jako podziękowanie dla obywateli Złotnik.

 

 

Wir müssen auf Pfarrer Semkło warten. Er hatte noch Krankenbesuche im Krankenhaus zu machen, und das geht nicht immer so ganz pünktlich. Also warten wir.  Doch Pfarrer Semkło ist gekommen und wir beginnen unsere kleine Zeremonie. Bürgermeister Ostrowski eröffnet mit der Frage, ob wir auch zufrieden sind, was wir mit einem eindeutigen "Ja, sehr" beantworten.

 

Zunächst liest jetzt Edmund die polnische Übersetzung, danach lese ich den deutschen Text. Wir schließen unsere Vorträge mit einem Gebet von Pfarrer Schmidt aus Kassel.

 

Der Text der Ansprache und das Gebet:

 

09a Edmund.jpgDrodzy przyjaciele ze Złotnika, drodzy byli mieskańcy Reinswalde.
Istnieje szczególny powód, że spotykamy się dziś na cmentarzu.
Nasi przyjaciele w Złotniku wystawili naszym przodkom, którzy zostali pochowani na tym cmentarzu przed 67 laty oraz wcześniej, trwały pomnik. Aby było to odpowiednie miejsce spokoju, namysłu i skupienia, dzisiejsi mieszkańcy założyli dla nich prawdziwy mały cmentarz, z miejscem do siedzenia. Zawsze kiedykolwiek odwiedzimy dawną ojczyznę znajdziemy tu małe miejsce do odpoczynku i wspomnień.

Drodzy przyjaciele ze Złotnika, dziękujemy wam za to z całego serca. Serdeczne podziękowania kierujemy również do parafii za tablicę pamiątkową ze stosownym tekstem.
Drodzy byli mieszkańcy Reinswalde, zawsze kiedy tu przybędziecie, przynieście, proszę, z sobą mały bukiet kwiatów, albo jakikolwiek inny mały dowód pamięci. Myślę, ze znajdziemy tu przyjaciół, którzy zawsze zadbają tu o porządek i uprzątną stare kwiaty lub wszelkie niepotrzebne już rzeczy.
Obecnie, jako dowód uznania dla trudu, jaki obecni mieszkańcy zadali tu sobie oraz dla upamiętnienia naszych przodków składamy dziś te kwiaty.
Przede wszystkim jednak kierujemy podziękowanie i uznanie dla przyjaciół, którzy mieszkają tu we wsi.
Teraz zakończmy naszą małą ceremonię modlitwą.

 

Auf den Bildern sind auch der neue schmiedeeiserne Zaun und (im Bild rechts mit Edmund) sogar das neue Eingangstor gut zu erkennen.

 

09b Klaus.jpgLiebe Freunde hier in Złotnik, liebe ehemalige Reinswalder.
Es ist schon ein besonderer Grund, daß wir uns heute hier auf dem Friedhof treffen.
Unsere Freunde hier in Złotnik haben unseren Vorfahren, die vor 67 und mehr Jahren gestorben sind und hier auf diesem Friedhof beerdigt wurden, ein festes Denkmal gesetzt. Damit es auch ein richtiger Ort der Ruhe, Besinnung und Einkehr ist, haben die Männer einen richtigen kleinen Friedhof, mit einem Platz zum Hinsetzen, für uns angelegt. Immer wenn wir die alte Heimat mal besuchen, finden wir hier einen kleinen Platz zum Ausruhen und Erinnern.
Liebe Freunde in Złotnik, wir danken Euch von ganzem Herzen dafür. Einen herzlichen Dank auch an die Kirchengemeinde für die Erinnerungstafel mit dem passenden Text.
Liebe ehemalige Reinswalder, immer wenn Ihr einmal hierher kommt, bringt bitte einen kleinen Blumenstrauß oder irgendeine kleine Aufmerksamkeit mit. Ich denke, wir werden hier Freunde finden, die auch immer wieder mal Ordnung machen und alte vergangene Blumen oder Ähnliches wegräumen.
Für heute, als Anerkennung für die Arbeit, welche die Männer sich hier gemacht haben und auch zum Gedenken an unsere Vorfahren und Großeltern, legen wir heue diese Blumen nieder. Er soll zunächst erst einmal unser Dank und eine Anerkennung an die Freunde sein, die jetzt hier im Dorf wohnen.
                           Heimatfreund Klaus Winkler                              Jetzt beenden wir diese kleine Zeremonie mit einem Gebet.

 

Kochany Ojcze w niebie, Ty jesteś Bogiem żywych i umarłych.
Stoimy dziś nad grobami naszych ukochanych. Wiemy, że są oni bezpieczni w twoich dłoniach.
Dziękujemy ci za to miejsce na ziemi, w którym możemy o nich myśleć i być z nimi blisko.
Dziękujemy również za przyjaźń i zrozumienie, która dziś powstała między naszymi narodami.
Pojmujemy to jako cud, który ty sprawiłeś. Ty poruszyłeś serca ludzi i w ten sposób podarowaleś pokój.
Prosimy cię, pobłogosław wszystkie dążenia między naszymi narodami, które służą pokojowi.
Pobłogosław ludzi, którzy w tej miejscowości wspominają zmarłych. Pobłogosław ludzi, którzy szukają tu spokoju i nabożeństwa.
Pobłogosław nas wszystkich w tej miejscowości. O to wszystko prosimy cię przez miłość Jezusa, Amen.

 

Lieber Vater im Himmel, Du bist ein Gott der Lebenden und der Toten.
Wir stehen heute bei den Gräbern unserer Lieben. Wir wissen sie in Deiner Hand geborgen.
Wir danken Dir für diesen Ort auf Erden, wo wir an sie denken und ihnen nahe sein dürfen.
Wir danken auch für die Freundschaft und Verständigung, die heute zwischen unseren beiden Völkern gewachsen ist.
Wir erkennen es als ein Wunder, das Du bewegt hast. Du hast die Herzen der Menschen bewegt und so den Frieden geschenkt.
Wir bitten Dich, segne alle Bemühungen unter unseren Völkern, die dem Frieden dienen.
Segne die Menschen, die an diesem Ort ihrer Verstorbenen gedenken. Segne die Menschen, die hier Ruhe und Andacht suchen.
Segne uns heute hier an diesem Ort. Das alles bitten wir um Jesu willen. Amen.

 

Diese Tafel aus Granit, auf Hochglanz geschliffen,
wurde von der katholischen Kirchengemeinde in Złotnik für dieses Denkmal gestiftet.

 

05 Tafel.jpg

 

10 letzte Gruppe.jpgAm Ende der Zeremonie stellten sich die Anwesenden gerne zu einem Gruppenfoto.

 

Die Teilnehmer von rechts:
Unser Freund Edmund Kantyka, Pfarrer Ireneusz Semkło, Helma Winkler, Michal Hołowacz, Wincenty Baranowski, Irena Kantyka, Bürgermeister Kazimiery Ostrowski und Klaus Winkler.

 

 

 

 

 

 

 

Nun war damit diese unsere denkwürdige Feier noch lange nicht zu Ende. Herr Ostrowski hat uns alle zu einer gemütlichen Stunde in die Bibliothek eingeladen, heute im Gebäude der ehemaligen evangelischen Schule. Die Frauen haben für Kaffee und Kuchen gesorgt und der Bürgermeister spendierte eine Flasche guten Rotwein. Frau Emilia Klusek, die Hausherrin in dieser Bibliothek, hat uns mit Hilfe ihrer Tochter Julita Klusek bedient. Beide zeigten mir noch die Internetseite von Złotnik, die Internetadresse lautet: www.zlotnik.gminazary.pl.

 

Zum Schluss tragen sich alle in das Gästebuch dieses Hauses ein, es war kein goldenes, es wurde aber eine ganze Seite. Edmund ist der letzte, neben ihm sitzt Michal Hołowacz.

 

Seit etwa einem Jahr hat Reinswalde (Złotnik) einen neuen Bürgermeister. Herr Kazimiery Ostrowski war uns bei der Organisation dieses Ehrenmals sehr behilflich, bzw. er hat das Ganze verantwortlich organisiert. Ihm gebührt unser großer Dank!

 

21 Bibliothek 4.jpg22 Edm u Michal in der Biblio.jpg

 

 

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Die Flucht 1945 – 1946
nach eigenem Erlebnis und aus den Erinnerungen von Martha Leitloff, geb. Wolf
verfaßt von Dieter Schmidt

 

13. – 16. Februar 1945
Am 13. Februar 1945 rückten die Russen in Reinswalde ein. Martha Leitloff verbringt mit meinen Großeltern (Anna und Gustav Hänsel) sowie Tante Lisbeth (Hänisch verw. Leitloff) und Sieglinde eine Nacht bei Tschaksches.(1) Am 14. Februar 1945 brechen sie gemeinsam zu Schmidts in die Wellersdorfer Straße. Von dort aus sammeln sich dann alle bei deren Nachbarn Wilhelm und Klara Kluge. Die Zeit bei der Familie Kluge wird aber unerträglich, weil immer wieder die Russen in das Haus einfallen und uns, besonders die Frauen, terrorisieren.

Ab 17. Februar 1945
Die deutschen Soldaten beginnen mit einem Gegenangriff. Gleichzeitig ist dieser Tag der Beginn unserer Flucht und mein Geburtstag. Ich wurde 7 (sieben) Jahre alt. Von Kluges aus geht es über das Goldbacher Feld in Richtung der Straße Sorau – Sagan. Von hier aus können wir sehen, wie die Russen die Sorauer Kasernen besetzten. Sieglinge Leitloff und Helmuth Merkwirth sind noch zu klein (19 und 13 Monate) um zu laufen. Sie werden im Kinderwagen transportiert. Dadurch kamen wir nur langsam voran, weil die Kinderwagen über die Spurgräben der Panzer und die Schutzlöcher gehoben werden mußten. Auf dem Goldbacher Feld geriet unsere Gruppe unter Beschuß der Russen. Hinter uns also die Russen und vor uns die deutsche Wehrmacht am Waldessaum, die gerade Munition nach vorn brachte. Die deutsche Wehrmacht versuchte uns dann durch Sperrfeuer etwas Schutz zu geben. Nach Erreichen des Waldsaums kniete die Gruppe nieder, um zu beten.

Später rasteten wir an und auf einer verschneiten Rübenmiete. Hier gratulierte mir Tante Martha zu meinem in Vergessenheit geratenen Geburtstag und schenkte mir zwei Äpfel. Leider vergesse ich hier beim Weiterzug mein Paar Ersatzschuhe.

Unsere Gruppe besteht aus 28 Reinswaldern. Es waren
            Anna Merkwirth, Helmuth Merkwirth, Pauline Hänisch (geb. Otte, Schwester meiner Oma), Martha Leitloff (geb. Wolf),
            Gustav Hänsel (mein Opa), Anna Hänsel (meine Oma), Elisabeth Hänisch (verw. Leitloff, geb. Hänsel), Sieglinde Leitloff,
            Martha Schmidt (geb. Otte, meine Oma und Mutter meines Vaters), Lina Schmidt (geb. Hänsel, meine Mutter), Dieter Schmidt,
            Wilhelm und Klara Kluge mit Sohn Horst, Frau Tschentke, Frau Hänisch mit 2 Kindern (Beiname Schneider-Nitschke),
            Gertrud Pusch (Mutter von Manfred), Mutter Tschaksche (1), Gottfried Pohl und seine Mutter.
Die Namen der restlichen Personen können von Tante Martha z. Zt. nicht mehr genannt werden, weil sie sich ihrer Erinnerung entziehen.(2) Einige Personen gingen der Gruppe schon während der Flucht über das Goldbacher Feld verloren, so auch das Ehepaar Kluge mit Sohn Horst, weil sie im Kugelhagel auseinandergerissen wurde.

Gottfried Pohl hat sich während des Fußmarsches seinen Beinstumpf wund gelaufen. Deutsche Soldaten nehmen ihn und seine Mutter mit. Damit verlassen sie unsere Gruppe und enden später in Amberg, Bayern. Wir laufen bis zur Straße Hansdorf – Kunzendorf und übernachten in einem leeren Haus in Kunzendorf. Von hier nehmen uns deutsche Militär-Lkw aus der Frontlinie. So kommen wir nach Bautzen, wo wir in einer Schule unterkommen und auf Stroh lagern. Nach einer Woche in der Schule werden wir in einen Güterzug verfrachtet. Die Waggons werden dicht bei dicht gefüllt und von außen verschlossen.

Ende Februar 1945
Von Bautzen aus ging es im Güterzug bis vor Dresden. Die Stadt hatte gerade den Großangriff der englischen Luftwaffe (vom 13.2. bis 15.2.1945) hinter sich. Dort standen wir im verschlossenen Zug drei Tage ohne etwas zu essen und zu trinken auf einem Güterbahnhof vor der Stadt. Die Notdurft mußte in den Waggons verrichtet werden. Zu dieser Zeit gab es noch Einzelangriffe der Alliierten aus der Luft auf die Stadt und die Umgebung. Die Gruppe hatte damals so gut wie sicher mit dem Leben abgeschlossen – aber alles geht gut. Endlich ging es dann doch mit dem Zug weiter. Nach drei weiteren Tagen ohne Essen und Trinken laufen wir in Prag ein. Hier bekommen wir erstmals wieder Wasser durch die kleinen, vergitterten Waggonfenster gereicht. Eisenbahner versorgten uns aus dem Vorratswasser für die Lokomotiven. Die Fahrt geht weiter bis Neuhaus, Tschechien. Von hier kommen Tante Martha (Leitloff) und Tante Liesel (Steinke)(3) ins Krankenhaus nach Iglau. Sie werden an den Folgen der Flucht behandelt und kehren zurück nach Neuhaus. Im Krankenhaus gab es viele Mütter mit kleinen Kindern, untergebracht in einem extra Raum, die an den Folgen der Flucht litten. Viele Kinder waren sterbenskrank und überlebten nicht.

März – April 1945
Neuhaus ist erst einmal vorläufige Endstation. Wir sind in einer Schule untergebracht. Hier sammeln sich viele Flüchtlinge. Unsere Gruppe bekommt Kontakt zu einem landwirtschaftlichen Gut. Einige Personen aus der Gruppe helfen diesem Betrieb beim Pflanzen von Kartoffeln, als Gegenleistung für erhaltene Lebensmittel.

Mai bis November 1945
Beim Rückzug vom Balkan kommt eine große Anzahl deutscher Soldaten durch Neuhaus. Es gibt viele Verwundete und der Rückzug reißt tagelang nicht ab. Die Soldaten treiben Kuhherden vor sich her und schlachten Tiere bei Bedarf. Hier holen wir uns etwas Fleisch und lernen einige Soldaten kennen. Diese sagen uns zu, uns mitzunehmen, wenn die Russen kommen und der Weiterzug mit dem Ziel Bayern ansteht. Die Tschechen proben inzwischen den Aufstand mit Glockenläuten. Noch haben die Deutschen das Sagen. Inzwischen sind auch die Amerikaner nicht mehr weit. Wir wollen zu den Amerikanern. Am 8. Mai 1945 ist Waffenstillstand.''

Die deutschen Soldaten hielten Wort. Sie weckten uns in der Nacht und nahmen uns mit. Unsere Gruppe wurde auf zwei Lastwagen verteilt. In den Wirren des Rückzugs werden die zwei Lkw getrennt. Liesel Steinke mit Sohn Reinhard sowie Annemarie Kloß sind nicht mehr bei uns. Letztendlich landen sie in Wien und später in Minden / Westfalen.(3, 4) Die Auflösung des Trecks in zwei Richtungen hatte zur Folge, daß unsere Gruppe nur noch aus folgenden Personen bestand:
            Anna Merkwirth, Helmuth Merkwirth, Erwin Kloß(3), Pauline Hänisch (geb. Otte), Martha Leitloff (geb. Wolf),
            Gustav Hänsel, Anna Hänsel, Elisabeth Hänisch (verw. Leitloff, geb. Hänsel), Sieglinde Leitloff,
            Martha Schmidt (geb. Otte; meine Oma), Lina Schmidt (geb. Hänsel), Dieter Schmidt.

Nach einer gewissen Zeit ist der Treibstoff des Lkw aufgebraucht. Weiter geht es zu Fuß. Wir kommen bis in den Böhmerwald und in den amerikanischen Geltungsbereich. Unterkunft finden wir beim Bauern Lederhofer auf dem Dachboden und auf Stroh in Chrobold. Den ganzen Sommer arbeiten die verbliebenen Erwachsenen unserer Gruppe für die Ernährung in der Landwirtschaft. In der Nähe unserer Unterkunft befindet sich ein Gefangenlager für deutsche Soldaten. Ein Schlesier, Herr Heinrich, wird entlassen und schließt sich uns an. Er war Zahlmeister bei der Wehrmacht. Er und Lina Schmidt, die einen größeren Geldbetrag mit auf die Flucht nehmen konnte, hielten uns über Wasser. Da es im Oktober auf dem Boden des Hofes Lederhofer lausig kalt wurde, wurde das Quartier mit Erlaubnis des Bürgermeisters (damals noch ein Deutscher) in ein verlassenes Sägewerk verlegt. In der Arbeitshalle gab es hier einen Ofen und auf dem Betriebsgelände genügend Brennholz.

Inzwischen haben die Tschechen das Regiment übernommen. Sie plündern uns und es geht das Gerücht um, alle müßten weg, auch die Einwohner des Ortes, die Deutsche sind. Die Lage war also total unsicher und deshalb wollten wir weg. Das Ziel war nach wie vor Bayern. Kolportiert wurde, es könne ausreisen, wer in Deutschland eine Wohnung nachweisen kann.

Uns fällt Frau Hofmann ein, die Frau unseres Pastors, der bekanntlich aus Balhorn stammte. Sie hat schon anläßlich ihrer Rückkehr nach Balhorn den Reinswaldern gesagt, daß sie helfen würde, wenn sie in Not kämen. Lina Schmidt (meine Mutter) schreibt ihr einen Brief und erklärt die Lage. Aber wie den Brief nach Deutschland bekommen? Herr Hinrich (der Zahlmeister) und Martha Leitloff sollen den Brief nach Deutschland bringen und nach Balhorn schicken. Es ist November 1945, der Schnee liegt ½ Meter hoch, die Grenze ist 50 km entfernt und muß schwarz überwunden werden. Die Beiden machen sich auf den Weg. Das Vorhaben gelingt. Haidmühle ist der erste deutsche Bahnhof, den sie erreichen. Sie sind durchnäßt bis auf die Haut und sie übernachten im Wartesaal des Bahnhofs mit vielen weiteren Heimatlosen. Das Ziel ist Passau. Der Zug fährt aber nur bis Tiefenbach, weil die weitere Strecke zerstört ist. Also geht es zu Fuß weiter.

In Passau angekommen, sind sie in das erstbeste Haus, es lag in der Adalbert-Stifter-Straße 17, gegangen und haben den Bewohnern die Lage erklärt: Daß man dem Briefempfänger ihre Adresse angeben möchte, damit man eine Anschrift für die Rückantwort hat. In vier Wochen wollte man wiederkommen, um nach der Antwort zu fragen. Die Angesprochenen waren einverstanden. Nun ging es wieder zurück nach Chrobold, nachts schwarz über die Grenze.

Dezember 1945 bis Januar 1946
Inzwischen hatten wir uns eine neue Bleibe gesucht. Zwischen dem 10. und 20. Dezember zogen wir in einen Raum in der Schule. Im Sägewerk war es inzwischen auch zu kalt, weil die Werkhalle zu hoch war und nur ein einfaches Ziegeldach hatte. In diese Zeit fiel auch der zweite Gang von Martha Leitloff und Herrn Heinrich über die deutsch/tschechische Grenze. Es ging alles gut. Gott hat uns behütet. Kurz vor Weihnachten hatten wir die Zusage von Frau Hofmann nach Balhorn zu kommen. Ein Bauer aus Chrobold fuhr uns mit dem Pferdewagen an die Grenze nach Haidmühle. Von hier mußten wir per Pedes mit den noch vorhandenen Habseligkeiten über die Grenze nach Haidmühle. Diesmal legal, weil wir mit dem Brief von Frau Hofmann eine Wohnung nachweisen konnten. Alles ging glatt. Von hier aus nahmen wir den Zug nach Passau. Irgendwie kamen wir aber nur bis Regensburg. Die Züge gingen sehr unregelmäßig und außerdem waren alle Scheiben der Wagen zerbrochen.

Bis ein Zug gen Norden ging, verbachten wir eine Woche im Saal einer Gastwirtschaft in Regensburg. Die Züge waren so überfüllt, daß auch die Dächer vollbesetzt waren. Zwischenstation war dann Würzburg. Tage später sind wir in Kassel angekommen und übernachteten hier im Flüchtlingslager. Am Morgen nach unserer Ankunft treffen wir im Waschraum Gotthelf Flöther (mein Pate), der wie wir nach Balhorn unterwegs war. In Balhorn sind wir dann am 15. oder 16. Januar 1946 angekommen. Eine Woche verbrachten wir im Pfarrhaus der SELK.(5) Inzwischen hatte uns Frau Hofmann Quartiere bei Balhorner Bürgern besorgt. Wir wurden bestens aufgenommen und waren dankbar, endlich wieder etwas zu essen, ein Dach über dem Kopf und eine warme Stube zu haben. Herr Heinrich blieb dann noch etwa zwei Wochen in Balhorn und zog dann zu seinen inzwischen gefundenen Angehörigen.

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Erläuternde Hinweise (nicht nur) für die Internetseite von Reinswalde von Reinhard Steinke:
(1) Nach dem Familienbuch Reinswalde handelt es sich um die Familien von Hermann [244] und Paul [245] Tzschacksch,
            Dorfstraße 157 = Haus-Nr. 154 = H…;
            leider läßt sich nicht genau klären, wer mit "Mutter Tschaksche" gemeint ist. Vermtl. ist es Johanne Marie Auguste Tzschacksch, die Mutter der oben       genannten Hermann und Paul.  Sie wird in der Gemeinde-Vermißtenliste der Heimatortskartei für die Mark Brandenburg östlich der Oder /Neiße             vom 8.9.1961 in Reinswalde (ohne Vornamen) genannt, als Mutter von Paul Herrmann Tzschacksch [245] bezeichnet und ist eine Tochter des Bauern         Johann Gottfried Kothe ¥ Eva Rosina Hübner, dessen Hof später "langer Kothe" genannt wird.
(2) Beim letzten Reinswalder-Treffen in Balhorn am 7. Sept. 2014 wurde ausführlich über die zunächst unbekannten Reinswalder diskutiert und mit Erwin Kloß die Liste vervollständigt. Im nachfolgenden Absatz wird "Tante Liesel Steinke" erwähnt, also war auch ihr Sohn Reinhard zunächst bei der             Gruppe.
(3) Mit Tante Liesel und ihrem Sohn Reinhard sowie Annemarie Kloß werden drei weitere Personen genannt, siehe auch(2); in der zweiten namentlichen    Aufstellung erscheint nun auch Erwin Kloß, der Bruder von Annemarie; somit sind jetzt 26 von 28 Personen namentlich bekannt. Ein   Telefongespräch am 23.9.2014 mit Martha Leitloff bestätigt diese Annahme.
(4) Siehe auf der Internetseite von Reinswalde "Erinnerungen":
            "Brief an eine Heimatfreundin vom 4. April 1946"; Elisabeth Steinke ("Schmidts Liesel") an Gertrud Rehnisch, später verheiratete Gummert. Liesel            Steinke beschreibt den weiteren Verlauf ihrer Flucht mit Annemarie und Reinhard. Ihre Erinnerungen decken sich mit den Aufzeichnungen von   Martha Leitloff und Dieter Schmidt knapp 70 Jahre später.
(5) Gemeint ist hier die "lutherische Balhorner Gemeinde", eine sogenannte "lutherisch-renitente Kirchengemeinde", die zur hessischen Renitenz gehörte.      Die "Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK)" gründete sich später durch den Zusammenschluß mehrerer        lutherischer Freikirchen.

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